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Archiv-Artikel

„Leid nicht vergolden“

Ein hochkarätiges Polit-Podium diskutierte die Risiken der Genforschung – und eine neue Lebenseinstellung, die durch neue Technologien und aus ihr abgeleiteten Hoffnungen entsteht

Von ede
„Ich möchte nie, dass andere mir den Sinn meines Leidens vorschreiben“

bremen taz ■ Der Vorwurf von Experten, dass in Schulen zu wenig über die Folgen von Gentechnik informiert würde, ist offenbar angekommen. Unter den rund 150 ZuhörerInnen, die am Dienstagabend zu Vortrag und Debatte über „Die Sehnsucht nach einem Leben ohne Leiden“ ins Bremer Rathaus kamen, waren bestimmt ein Viertel SchülerInnen. Den Abend freilich dominierte das fünfköpfige Podium aus lebenserfahrenen früheren und gegenwärtigen Mitgliedern der Enquetekommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des deutschen Bundestages. Insbesondere deren frühere Vorsitzende, Margot von Renesse (SPD), verwahrte sich vehement gegen den Ruf nach schärferer gesetzlicher Regelung oder gar Verboten von genetischer Forschung. „Der Gesetzgeber darf niemandem vorschreiben, wie er zu leben hat.“ Aber, machte Renesse deutlich, „wir haben die Forschung an embryonalen Stammzellen nicht zugelassen. Wir haben sie nur nicht verboten.“ Dies entspreche der im Grundgesetz verbrieften Freiheit von Forschung.

Einigkeit herrschte auf dem Podium darüber, dass Heilsversprechen durch Stammzellenforschung, die insbesondere in der Yellow Press transportiert werde, viele Menschen in die Irre führten. Oft Kranke, die sich fälschlicherweise Heilung und Beendigung ihrer Leiden erhoffen. Dabei sei unklar, woher diese falschen Botschaften kämen, so das Gründungsmitglied des Tübinger Zentrums für Ethik in den Wissenschaften, Dietmar Mieth. Ist es die Presse oder sind es Mediziner, die oft schon in der Wortwahl, beispielsweise vom ‚therapeutischen Klonen‘, verhüllen, dass es dabei um Tests und Experimente an menschlichen Embryonen gehe, deren Folgen vielfach das Leben Ungeborener beenden – und Eltern in schwere Krisen stürzen können.

So gebe es die Möglichkeit, schwere Krankheiten wie Corea Huntigton am Gen festzustellen und daraus eine Entscheidungsfreiheit der Eltern über Leben und Tod des Ungeborenen abzuleiten. Letzteres dürfe nicht sein. „Leiden kann keine Fremddiagnose sein in dem Sinn, dass ich entscheide, dass jemand anders nicht geboren werden soll.“ Diese Entscheidung müsste der betroffene Mensch selber fällen können – bei dem die Krankheit in der Regel im Alter von 40 Jahren ausbreche. Ähnliches gelte für eine mindestens ebenso umstrittene und fehleranfällige Frühdiagnose von Alzheimer am Gen: Solle jemand nicht leben dürfen, weil er mit 60 Jahren an Alzheimer erkranken wird, fragte Mieth provozierend.

Die Provokation freilich verhallte, da sich das Podium grundsätzlich einig war darüber, dass die Selektion von Genen oder die Forschung an Embryonen eine der heikelsten und umstrittensten Fragen dieser Zeit sei. Der katholische Lebensschützer Hubert Hüppe (CDU), stellvertretender Kommissionsvorsitzender, mahnte wiederholt: „Der Leidbegriff wird benutzt, um die auszusondern, die unsere Hilfe bräuchten.“ Jedoch sei es widersprüchlich, Abtreibung bis zur 24. Schwangerschaftswoche zuzulassen, pränatale Diagnostik aber nicht. Nur am Rande der Diskussion floss ein, dass Deutschland sich mit seinen Regelungen am Rande der europäischen Realität bewegt: So beschäftigen sich in Spanien derzeit drei Prozent der Forschung damit, wie „social sexing“, die Geschlechtswahl des gewünschten Kindes, zu gewährleisten sei, berichtete Mieth. Dort sei wohl als Leid anerkannt, dass man nicht eine gewünschte Mischung von Töchtern und Söhnen haben könne, diagnostizierte der Ethiker kritisch. Schon könnten Embryonen zur Adoption angeboten werden, bei denen Augen- und Haarfarbe bestimmt seien – „damit sie in die künftige Familie passen.“ Unvorstellbar für deutsche Verhältnisse – aber auch eine völlige Neubewertung von vermeintlichen Vorzügen und Nachteilen, die genetische Eingriffe erforderlich machten – es sei denn, man wolle einen Nachteil oder Leid darin erkennen, dass ein Kind eine nicht gewünschte Haarfarbe haben würde.

„Es gibt einen neuen Typus der Leiderfahrung“, fasste Mieth zusammen. Und auch der Beegriff der Hoffnung habe sich grundlegend gewandelt. Er werde eng mit den Versprechungen der Genforschung verknüpft. Das Fatale dabei sei, dass diese Hoffnung sich zunehmend auf technische Möglichkeiten reduziere. „Das führt zum Verlust von Alternativen.“ So müsse es möglich sein, ein durch Leid eingeschränktes Leben würdevoll zu leben.

Vor einer „Vergoldung des Leidens“ warnte Margot von Renesse. „Ich möchte nie, dass andere mir den Sinn meines Leidens vorschreiben.“ Sie kenne und bewundere Eltern schwer behinderter Kinder – „aber wir können nicht strafrechtlich erzwingen, was wir bewundern“, mahnte sie.

ede