: Honeckers letzter Mann
AUS POTSDAMROBIN ALEXANDER
Heinz Vietze fährt jeden Tag mit seinem Dienst-BMW zur Arbeit in den Kreml. Das Gebäude aus rotem Backstein, das von einem Hügel wie eine Trutzburg über Potsdam blickt, beherbergt den Landtag des Landes Brandenburg. Bis 1990 residierte hier die SED-Bezirksleitung, daher der russische Spitzname. Vietze, heute ein massiger Endfünfziger und Parlamentarischer Geschäftsführer der PDS-Fraktion, war zu jener Zeit kaum schlanker, aber sein Haar war noch nicht grau. Und er fuhr auch damals schon im Dienstwagen in den Kreml. Allerdings mit sowjetischer Karosse. Genauer: Er wurde gefahren. Heinz Vietze war SED-Bezirkssekretär von Potsdam, als das Volk die DDR beendete.
Fünfzehn Jahre später ist er ein bisschen sauer: Er würde jetzt gerne über Hartz IV sprechen oder über die Spitzenkandidatin Dagmar Enkelmann und über Umfragen, die seine PDS bei den Landtagswahlen am 19. September bei 30 Prozent und damit vor SPD und CDU sehen. „Aber Ihre Fragestellung deutet darauf hin, dass fünfzehn Jahre Arbeit im freiheitlich-demokratischen System, im Haupt- und Verfassungsausschuss des Parlamentes in Ihrem Porträt keine Rolle spielen wird“, beschwert er sich zu Beginn des Gespräches im Foyer des nur einen Spaziergang vom Kreml entfernten ehemaligen DDR-Interhotels „Stadt Potsdam“, dem heutigen „Mercure“.
Der 56-Jährige fühlt sich schlecht behandelt. Alle paar Jahre – „erstaunlicherweise immer, wenn Wahlkampf ist“ – kommt einer „aus dem Westen“ und fragt nach den alten Geschichten. Die Brandenburger Journalisten hingegen fragen ihn längst nach anderen Dingen: nach dem Untersuchungsausschuss zur Chip-Fabrik, den Vietze leitet, nach dem PDS-Wahlkampf, den Vietze auch leitet, oder nach seinen Plänen für Koalitionsverhandlungen mit der SPD.
Vietze ist ein jovialer, väterlicher Typ, dessen Hände beim Erzählen ineinander gefaltet auf seinem Bauch liegen und Däumchen drehen. „Mein nervliches Kostüm war damals gut und ist es heute.“ Vietze, der jüngste Kreissekretär den die SED je hervorbrachte, stieg in den Wendemonaten gar zum Bezirkschef auf. Niemand auf diesem Niveau der DDR-Nomenklatura hat es geschafft, bis heute auf hoher Ebene in politischer Verantwortung zu bleiben. Nur Vietze.
Der Erste
„Wofür ist ein Erster in einem Kreis wie O. eigentlich verantwortlich? Für alles!“, schwärmt die Reportage „Der Erste von O.“ von Gerhard Holtz-Baumert, DDR-Kinderbuchautor und Vizepräsident des Schriftstellerverbandes. Der Text von 1986 ist ein literarisches Denkmal für den vorbildlichen Genossen Heinz Vietze, der mit Mitte dreißig die Verantwortung trug für nicht weniger als: „100 volkseigene Betriebe, 25 LPG, 2 agrochemische Zentren, ein Trockenwerk, ein Forstwirtschaftsbetrieb mit 35.000 Hektar Wald. Auf dem Acker rollen 80 Mähdrescher, 40 Kartoffelkombines und über 700 Traktoren. Und dazu 6 Krankenhäuser und 45 Jugendklubs und rund 50 Bibliotheken, eine Musikschule und 8 Karnevalsclubs.“
In seiner Zeit als Erster war Vietze ein bisschen dick („er mag Marzipan und Nusscreme“), joggte aber, sammelte „Minibücher, auch die erotischen“, hatte schon drei Söhne und eine „ranke, schlanke Frau“. Die SED plante seine Familie. Ein „wachsamer Kadermann“ nahm Vietzes zukünftige Frau auf der FDJ-Jugendschule beiseite: „Mädchen, du kannst dir einen suchen und meinetwegen kannst du auch heiraten, aber […] bring wenigstens einen Kader in den Bezirk.“
Vietze redet gern über die DDR – aber nicht unbedingt mit Journalisten. Die Daumen wechseln die Richtung und rotieren heftiger: „Als Sie sich angekündigt haben, dachte ich gleich: Na, der Beitrag von Frau Birthler zum Wahlkampf steht ja noch aus.“ Vietze hat als „Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit“ (GMS) tatsächlich eine Täterakte in der Behörde der Bundesbeauftragten. Die IM-Frage, nach der die Medien heute DDR-Biografien in Gut und Böse scheiden, ist bei einem wie Vietze kaum von Belang: Aber er war weniger inoffizieller Mitarbeiter der Diktatur, sondern vor allem ein exponierter.
So einer schuf sich seine Feinde meist offen. Zum Beispiel Rainer Speer, in den 80er-Jahren ein renitenter Mitarbeiter in einem FDJ-Kulturhaus. Speer musste bei Vietze zur Maßregelung antanzen: „Seine Bücher standen hinter Modellen von russischen Panzern und Raketen. Er griff einen Lenin-Band heraus und las vor.“ Als Speer uneinsichtig blieb, habe Vietze gedroht, ihn „in die Produktion“ zu schicken.
Die friedliche Revolution wollte Vietze zuerst bekämpfen. In einer Rede von ihm aus dem Spätsommer 1989 bekennt er sich dazu, ein „Betonkopf“ zu sein: „In dem Moment, wo der Klassengegner zum offenen Kampf übergeht, diskutiere ich nicht über das Niveau des Flugblatts oder der Schützengrabenzeitung, sondern gehe in den Kampf. […] lieber ein Betonpfeiler, an dem die Feinde zerschellen, als eine weiche Birne, die an der Politiknaivität zerschellt.“ Später musste Vietze dann doch aus dem Schützengraben. Speer, der bis zum Ende der DDR als Möbelrestaurator überwinterte, traf ihn 1989 wieder – am Runden Tisch. „Am liebsten wäre ich sofort wieder aufgestanden und gegangen, als ausgerechnet Vietze auf ,Basisdemokratie‘ pochte.“ Speer blieb und hat Karriere gemacht: Heute leitet er die Staatskanzlei für Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD). Es ist eine seltsame Vorstellung, dass Speer und Vietze vielleicht bald wieder zusammensitzen werden: Um eine gemeinsame rot-rote Regierung für Brandenburg auszuhandeln.
Der Zweite
Heute muss sich der einstige Herrscher über LPGs, Bibliotheken und Karnevalsclubs mit Oppositionspolitik begnügen – und selbst ein Wahlsieg der PDS würde ihm persönlich kein Amt bringen. 1999, als schon einmal eine rot-rote Koalition sondiert wurde, fragten Sozialdemokraten, die ihn schon seit Jahren duzten, plötzlich: „Herr Vietze hat doch wohl keine persönlichen Ambitionen?“
Vietze ist nie Fraktionsvorsitzender gewesen, nie Spitzenkandidat und nur 1990 kurz Landesvorsitzender: Aber er hat das Land zwischen Wittenberge und der polnischen Grenze seit der Wende vielleicht stärker geprägt als in seiner Zeit als SED-Provinzfürst. Pro forma war die Nummer eins in Brandenburg zwar immer Lothar Bisky, aber der Bundesvorsitzende, Medienwissenschaftler und Filmliebhaber weilte meist in anderen Gefilden als der Landespolitik.
Unter Vietzes Ägide wirkte die PDS im BRD-System alles andere als aufsässig: „Wir haben mitgewirkt bei der Verfassung und auch bei der Förderpolitik. Aber am wichtigsten war: Hier ist ein besonderes politisches Klima entstanden.“ Den „Brandenburger Weg“ nennt Vietze das. „Davon könnte sich die politische Kultur der Bundesrepublik ruhig etwas abschauen.“ Andere sehen das kritischer: Staatstragender als die Regierungsfraktionen habe die einzige Oppositionspartei unter Vietzes Führung agiert – und milliardenschwere Fehlentwicklungen zugelassen. Der ehemalige SPD-Landesvater Manfred Stolpe – so berichtet Vietze selbst – habe vor Jahren im Scherz zu ihm gesagt: „Herr Vietze, eigentlich gehören Sie in meine Staatskanzlei.“
Vietze, der im sachsen-anhaltischen Zeitz geboren wurde, ist als Typ heute so nur noch in „der kleinen DDR“ (Stolpe über Brandenburg) vorstellbar. Dagmar Enkelmann halten sie hier für besonders hübsch. Bisky für besonders intellektuell. Vietze für authentisch: Wenn er seine Geldbörse aus dem kleinen Handgelenk-Täschchen friemelt, sieht er tatsächlich genauso aus wie irgendeiner der zahllosen Rentner, Abgewickelten und Entlassenen, die seiner Partei immer die Treue gehalten haben.
Wie diese Klientel um Anerkennung ihrer Biografien ringt, so hat auch Vietze akzeptiert, dass er nie mehr in die erste Reihe kommt. „In den neuen Bundesländern wäre es kein Problem, würde ich mich wieder exponieren. Aber der Westen vergibt keinem, der in der DDR Verantwortung trug.“ Was soll’s: Vietzes Idee, die freundliche Dagmar Enkelmann zur Spitzenkandidatin zu machen, geht auf. Die Umweltpolitikerin wäre als Ministerpräsidentin oder Fraktionschefin noch stärker auf ihn angewiesen als bisher Bisky.
Der Letzte
Vietze ist vielleicht der einzige Politiker in Deutschland, dem man guten Gewissens glauben kann, dass ihn seine persönliche Karriere nicht interessiert. Ihm geht es um die Partei. Immer schon. „1989 war ein einziger Niagara-Fall für uns: Es ging immer runter“, erzählt er von seiner Furcht in der Wende. Dass die Partei wider alle Wahrscheinlichkeit nicht zerschellt und untergegangen ist, betrachtet er als sein Lebenswerk. Er hat die Erneuerung organisiert, die Lothar Bisky und Gregor Gysi anschließend verkauften. Bisky resümiert: „Dass Seiteneinsteiger wie ich die PDS prägen konnten, ist Leuten wie ihm zu verdanken.“ Er sieht bei Heinz Vietze Einsicht, gar Reue, und warnt, sein Wirken „nur als Fortsetzung alter Tätigkeit unter neuen Bedingungen misszuverstehen“.
Aber den Arbeitsaufwand in zwei Systemen vergleicht Vietze ganz offen: „Vom Zeitaufwand unterscheiden sich Diktatur und Demokratie nicht für die, die sich ernsthaft einbringen wollen. Unter 15, 16 Stunden geht es nicht.“ Lothar Bisky versteht die Reserviertheit, die Vietze bei ehemaligen Bürgerbewegten in Potsdam entgegenschlägt, nicht: „Mittlerweile müssen sie ihn doch längst als verlässlichen Menschen kennen gelernt haben.“
Heinz Vietze selbst scheint nie auf ein milderes Urteil der anderen Seite gehofft zu haben. In der Reportage von Gerhard Holtz-Baumert, der den Genossen Vietze vor zwanzig Jahren als „Erster von O.“ porträtierte, heißt es über ihn: „einer […] der ansprechbar ist, wo und wann auch immer, einer, der verletzbar ist, auch gewöhnt, Niederlagen und Kränkungen hinzunehmen ohne Lamento, einer, der immer neu beginnt: ein Funktionär“.