: achse des dubstep von tim caspar böhmeSehnsucht, schlafwandlerisch
Um stilistische Festlegungen hat sich Mark Pritchard eigentlich nie groß geschert. Ob er in den Neunzigern mit Global Communication Ambient revolutionierte oder als Troubleman Break Beats mit Latin-Eletronik kombinierte, stets hat der britische Wunderproduzent mit seinen sehr, sehr vielen Projekten auf ganz unterschiedlichen Baustellen Großes vollbracht. Ein Gefühl für Retro-Nostalgie vermittelte er zuletzt mit dem Library-Music-Konzept von Harmonic 33, bei dem alberne Synthesizer und Science-Fiction-Motive den Ton angaben. Dass er sein aktuelles Soloprojekt durch simples Hinzufügen einer Eins selbstironisch auf den Namen Harmonic 313 getauft hat, ist nicht nur Ausdruck britischen Humors, sondern zugleich klare Programmatik – 313 ist die Vorwahl der Techno-Stadt Detroit. Statt jedoch die Liste der Motor-City-Wiederbelebungsversuche durch eine schlichte Hommage zu verlängern, verdichtet Pritchard seine Techno-Euphorie mit Hiphop-Elementen und der Basswucht des Dubstep zu einem unwiderstehlichen Klangungetüm. Digitale Tiefenströme müssen jede Menge kaputtes Rhythmusgeröll umschiffen, trockene Break Beats treffen auf noch trockenere Computerstimmen aus den Tagen von Atari und Commodore. Was dabei an Sehnsucht nach der Vergangenheit die Boxen verlässt, macht Pritchards schlafwandlerische Könnerschaft auf so selbstverständliche Weise gegenwartstauglich, dass man nur noch Neues hört. Und das gerne immer wieder.
Harmonic 313 „When Machines Exceed Human Intelligence“ (Warp/Rough Trade)
Begeisterung, physiologisch
Mit seinen 34 Jahren ist Martijn Deykers für einen Album-Debütanten nicht eben jung. Doch manche Dinge brauchen etwas länger, und bei Martyn hat sich die Geduld gelohnt. So ließ er sich von den Städten Eindhoven und Rotterdam beeinflussen, in denen lange Zeit Techno und Drum & Bass vorherrschten. Als DJ und Produzent konzentrierte er sich zunächst auf die Klänge seiner früheren Wohnorte, begann aber bald, aus seinen Vorbildern eine neue Sprache zu entwickeln. Diese Eigenständigkeit ist auf seinem Erstling „Great Lenghts“ in fast jeder Nanosekunde deutlich zu hören. Zwar wird Martyn offiziell als Dubstep-Produzent gehandelt, und auch sein Label 3024 ist für genau diesen Stil bekannt, doch fließt in seinen Produktionen weit mehr durch die Kanäle. Da sind gerade Beats, wie man sie aus dem Techno kennt, sanfte Akkordflächen mit Deep-House-Wärme, sogar eine Gesangsnummer mit R-&-B-Anklängen findet sich auf seinem Album. So ausgewogen und abwechslungsreich gelingt nicht jeder Anfang. Dass Martyn den Fährnissen der Beliebigkeit lässig trotzt, liegt an seiner Vorliebe für den Bass. Die Begeisterung für die rein physiologische Tatsache, dass tiefe Frequenzen den Körper sanft zum Tanzen nötigen, schafft den großen Bogen. Ob man dazu Dubstep sagt oder nicht, scheint reine Geschmackssache. Martyn selbst hält bei Bedarf eine Kategorie bereit: Er bezeichnet seine Musik mit einigem Selbstbewusstsein als „Martyn Music“. Zu dieser Sicherheit hat er allen Grund.
Martyn „Great Lengths“ (3024)
Dialog, bassbetont
Seit einiger Zeit gibt es einen regen Austausch zwischen der Londoner Dubstep-Szene mit Dub-affinen Technoproduzenten aus Berlin. Besonders Stefan Betke alias Pole macht sich mit seinem Label Scape um gegenseitige Horizonterweiterung verdient. Schon zum zweiten Mal präsentiert das Label die Früchte dieser jungen Allianz, bei der schon von einer Achse zwischen London und Berlin die Rede ist. Auf den ersten Blick scheint die Kombination nicht angezeigt, denn das unstete rhythmische Flackern des Dubstep, einem Ziehkind des wesentlich hektischeren Drum & Bass, will auf den ersten Blick gar nicht zu der stoischen Geradlinigkeit Berliner Techno-Produktionen passen. Dass die Verbindung mühelos aufgeht, liegt vor allem am Bass als tiefstmöglichem gemeinsamen Nenner. Auch der vermehrte Einsatz von Hall-Effekten ist ein weiteres Bindeglied der Londoner und Berliner Szenen, die sich allmählich zu durchmischen beginnen – der britische Produzent Scuba zog vor zwei Jahren sogar von der Themse an die Spree. Aus dem bassbetonten Dialog entstehen Stücke von gelassener Nervosität und beeindruckender Tiefe. Die Räume, die hier aufgestoßen werden, verlieren sich jedoch nicht im Unendlichen, sondern werden durch die Niedrigfrequenzen geerdet. Mit dieser Öffnung in neue Richtungen auch über die Tanzfläche hinaus wird deutlich, dass Dubstep das Zeug zum ganz großen Ding hat: In seiner Anschlussfähigkeit und Wandelbarkeit wird seine Stärke erst richtig deutlich.
V.A.: „Round Black Ghosts 2“ (Scape/ Indigo)