piwik no script img

Archiv-Artikel

Aufgedrehtes Spielzeug

Das Vorbild ist niemand Geringeres als Muhammad Ali: Der Velberter Vitali Tajbert, ein Perpetuum mobile in blauer Hose, boxt sich als hochfrequenter Zappelphilipp im Federgewicht in die Medaillen

AUS ATHEN ERIK EGGERS

Das Perpetuum mobile in der blauen Hose weckt endlich die Halle. Es stehen die Viertelfinals im olympischen Boxturnier an, doch die rund 2.000 Zuschauer reagieren bisher müde auf das Geschehen im Athener Stadtteil Peristeri. Flau die Atmosphäre, einschläfernd die Kämpfe, einige Beobachter gähnen. Doch dann ruft der Hallensprecher Vitali Tajbert auf, die große deutsche Box-Hoffnung in Athen. „Mit viel Laune“ sei er eingelaufen, erzählt der Federgewichtler am nächsten Tag. Und grinst. Ein Schauspiel war’s nämlich: Als Tajbert in seine Ecke tanzte, wirkte er wie ein aufgedrehtes Spielzeug – nur dass die hohe Frequenz seiner tänzelnden Beine nicht abnehmen wollte. Dabei drehte er unablässig Pirouetten um sich selbst, ein Kreisel vorwärts, einer rückwärts, und dabei jagten seine Hände bereits den Gegner.

Die Show war nur der aufregende Prolog einer weiteren Demonstration: Am Ende dieses Viertelfinals gewann der 22-Jährige mit 34:26 Punkten gegen den starken Kubaner Luis Franco Vasquez und hat eine Medaille sicher. „Es geht noch weiter, wir können noch glücklicher werden“, sagte der selbstbewusste Mann vom Velberter VC 22 danach, „wir wollen ja um Gold kämpfen und nicht um Bronze.“

Das nächste Opfer ist der Nordkoreaner Song Guk Kim, „ein im Vergleich zu Vitali baumlanger Kerl“, findet Bundestrainer Helmut Ranze. Der Halbfinalgegner am Freitag ist für diese Klasse ein Riese, er überragt den nur 1,66 m kleinen Tajbert um satte 13 Zentimeter. Ranze sagt: „Da musst du erst mal die Distanz überwinden.“ Aber Tajbert kennt keine Furcht vor dieser unbekannten Größe, denn er ist es, den die Gegner fürchten. Er wird wieder nur seine Grundangst vor dem Kampf spüren: „Ein bisschen Angst“, sagt er, „ist wichtig, ein bisschen Adrenalin macht einen nur noch stärker.“

Wenn Tajbert so da steht und spricht, dann kann er seine Energie nur mühsam verbergen. Seine Beine stehen nie still, und manchmal zuckt sein Oberkörper hin und her. Übersprungshandlungen eines Vollblutboxers. Er kann die letzten beiden Kämpfe kaum erwarten. Endlich will er sich die Goldmedaille umhängen lassen. Der kleine Mann will endlich ein Großer werden.

Ein Olympiasieg könnte das Sprungbrett für eine Profikarriere sein. Promoter Kohl beäugt jeden seiner Kämpfe, die Verhandlungen mit dem Boxstall Universum werden nach Athen intensiviert, so ist es vereinbart. „Das Interesse ist da“, sagt Tajbert, aber „ich will auch etwas davon haben“. Schließlich wird bei den Profis „richtig zugehauen“, weiß er, „das sind nur Granaten von Schlägen“. Dafür verlangt er entsprechendes Schmerzensgeld: „Ich will meinen Kopf nicht nur für ein paar Pfennig hinhalten.“

Der Aufbau eines deutschen Federgewichts-Profis könnte gelingen. Tajbert ist nämlich nicht nur ein cleveres Bürschchen, er verkörpert auch einen attraktiven Boxstil. „Boxen ist eine Kunst“, sagt Tajbert, ein schöner Kampf sei ihm am wichtigsten, „wenn ich nicht attraktiv boxen könnte, dann hätte ich schon lange aufgehört“. Für das sachliche und nüchterne Distanzboxen der Klitschkos und Ottkes, lässt er durchblicken, hat er daher nur Verachtung übrig. Kein Schwergewichtler erreiche je die Schnelligkeit, die Vielseitigkeit, die hohe Schlagfrequenz und das Reaktionsvermögen seiner Gewichtsklasse, urteilt der Vize-Weltmeister von 2003 und amtierende Europameister, „außer Ali natürlich, der konnte wie ein Leichtgewichtler boxen“.

Angesichts solcher Vorbilder ist er mit seinem Auftritt in Athen eher unzufrieden. „Ich habe bisher meine Leistung nicht zu 100 Prozent gebracht“, sagt er selbstkritisch. Natürlich, er hat drei Kämpfe gewonnen, aber seine großartige Technik blitzte noch nicht auf, er profitierte von seinem Willen und seiner Furchtlosigkeit. „Alles ist viel stressiger geworden“, sagt Tajbert, „bei den ersten Kämpfen war ich noch frischer, aber jetzt bin ich … naja, ein bisschen unter Druck.“ Als Profi wird sich der Hochgeschwindigkeitsboxer aus dem Schwabenland daran gewöhnen müssen.