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Archiv-Artikel

Niemand hat geschrien

1942 organisierten die Nazis Kommandos, um Leichen aus zahlreichen von ihnen angelegten Massengräbern in Osteuropa zu beseitigen. Ein Verbrechen mit dürftiger Quellenlage

Im heißen Sommer 1942 waren die unzähligen Massengräber, in denen Opfer des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion verscharrt lagen, für die Deutschen zum Problem geworden. Austretende Flüssigkeiten drohten das Grundwasser zu vergiften. Zudem wies Verwesungsgestank auf die Gruben hin. Man kann nur vermuten, dass auch die Angst vor der näher rückenden Roten Armee die Nazis dazu trieb, mit großem Aufwand systematisch Massengräber zu öffnen und die Leichen verbrennen zu lassen. Saul Bellow sprach in diesem Zusammenhang von der plötzlichen Empfindsamkeit der Deutschen gegenüber Beweisen. Jens Hoffmanns umfangreiches Buch „Das kann man nicht erzählen – ‚Aktion 1005‘. Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten“ handelt davon.

Die „Aktion 1005“ beginnt 1942 mit dem Aufenthalt des bewährten SS-Manns Paul Blobel im Vernichtungslager Kulmhof in Chelmo. In Experimenten entwickelt er Verfahren zur Verbrennung exhumierter Leichen. Zuvor war er von Heydrich zum Koordinator der als „Geheime Reichssache“ deklarierten Aktion ernannt worden. Blobel stellt Sonderkommandos aus Beamten des Sicherheitsdienstes und Polizeieinheiten zusammen, die Verbrennungen in Vernichtungslagern erproben. Erster Einsatzort ist das Konzentrationslager Janowska. 1943 beginnt dann auf Himmlers Befehl die „Abäscherung“ der Ostfront: Kommandos ziehen monatelang durch die Ukraine, Weißrussland, Serbien, Russland, Polen, Estland, Litauen und Lettland, um Tatort um Tatort zu vernichten. Hoffmann beschreibt die Arbeit 17 solcher Kommandos. Wie viele es wirklich waren, lässt sich aufgrund der dürftigen Quellen – bei der Spurenverwischung sollten freilich keine neuen Spuren entstehen – nicht sagen.

Nach der Versuchsphase verliefen die von den Nazis Enterdung genannten Exhumierungen immer gleich: Wachmannschaften riegelten die Massengräber ab, errichteten Sichtschutze, Wachtürme und Lichtanlagen. Jüdische Zwangsarbeiter wurden aus den umliegenden Lagern und Gettos rekrutiert, in Fesseln gelegt und in schmale Erdbunker gepfercht. Sie mussten die Gruben öffnen und die Leiber der Getöteten mit Haken oder bloßen Händen herausziehen und die Leichen mit Holz auf Roste aus Eisenbahnschienen schichten. Sogenannte Brandmeister – manchmal trugen sie Kappen mit Teufelshörnern – entzündeten die Scheiterhaufen. Da diese bis zu 3.000 Leichen umfassten und sich bis zu sechs Meter hoch türmten, mussten die Häftlinge die Leichen über Gerüste hinaufhieven. Aus der Asche wurden die Wertgegenstände ausgesiebt, Knochenreste mit Mühlen zermahlen und anschließend ausgestreut. Nachdem sie die Gruben zugeschüttet und bepflanzt hatten, wurden auch die letzten Häftlinge ermordet und verbrannt. Übrig blieb nichts.

Dass die Verbrennung hunderttausender Leichen, allein in Babi Yar waren es 12.5000, unbemerkt blieb, ist unwahrscheinlich. Probleme durch Mitwisser gab es aber ebenso wenig wie bei den Massenmorden. In Treblinka beschwerte sich nur die Wehrmacht über den unerträglichen „Kadavergeruch“ der kilometerlangen Rauchschwaden.

Die Rückeroberung der Ukraine durch die Rote Armee machte die Verwischung der Mordspuren dringend. Als sich Meldungen der Wehrmacht von bis dato „unbekannten“ Massengräbern häuften, wurde die Spurenbeseitigung zum logistischen Problem – neben der Exhumierung war in den letzten Monaten auch die Ermordung der Getto- und Lagerinsassen Aufgabe der Aktion-1005-Kommandos. In vielen Gegenden Osteuropas pendelten Gaswagen zwischen Lagern und Gruben, die die während der Fahrt Erstickten an die Scheiterhaufen fuhren. Im März 1944 verlegte die NS-Führung die Sonderkommandos noch zu Tatorten in Polen und Estland.

Blobel wurde in einem der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt, andere Täter zu Strafen unter fünf Jahren. Auch die wenigen überlebenden Arbeitshäftlinge, denen trotz allem die Flucht gelang, sagten aus. Im Buch sind es deren Aussagen, die, ganz im Gegenteil zur Redseligkeit der Nazi-Täter, durch ihre Auslassungen schockieren. Wie soll man Arbeit und Leben in halb verwesten Leichenbergen beschreiben? Und wie die folgende Leere, die Absenz von Spuren?

Simon Srebnik, einer der zwei Überlebenden aus Chelmo, erinnert sich in Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“: „Das kann man nicht erzählen. Unmöglich. Das war immer so ruhig hier. Wenn die haben da jeden Tag verbrannt zweitausend Leute, Juden, es war auch so ruhig. Niemand hat geschrien. Jeder hat seine Arbeit gemacht.“

Das Darstellungsproblem spiegelt sich auch in Hoffmanns „Das kann man nicht erzählen“. Zwar benutzt Hoffmann „Shoah“, einen Film der Zeugenschaft, als roten Faden, aber er beruft sich selbst in den Zeugenstand und versucht, Worte und Bilder für das Grauen zu finden. Wo ihm das nicht gelingt, verfällt er in einen hilflosen Moralismus, der die Distanz zu Tat und Tätern aufrechterhalten soll. Dass diese Distanz zu brechen die Lösung des Problems sein könnte, deutete er im Vorwort zwar an, umsetzen kann er es leider nicht.

So oder so leistet der Autor aber einen bemerkenswerten Beitrag zu einem Thema, das bisher in der gängigen Literatur nur am Rande Erwähnung fand. SONJA VOGEL

Jens Hoffmann: „Das kann man nicht erzählen. ‚Aktion 1005‘ – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten“. Konkret Verlag, Hamburg 2008, 448 Seiten, 29,80 Euro