Erst in den Osten, dann nach Afrika

Nach 1918 endete die deutsche Kolonialgeschichte, nicht aber das Streben der Kolonialrevisionisten nach einem deutschen Reich in Afrika. Der Historiker Karsten Linne hat die NS-Kolonialplanungen detailliert untersucht

VON JOCHEN BECKER

Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner sprach in Bezug auf die Erinnerungen der Schoa und der Kolonialverbrechen einmal von „einer Kollison gegenläufiger Gedächtnisse“, die „ebenso unausweichlich wie in ihrer Konsequenz folgenschwer“ sei. Der Frage, inwieweit sich koloniale und nationalsozialistische Verbrechen überschneiden, geht der Hamburger Historiker Karsten Linne in seiner detaillierten Untersuchung zu den „NS-Kolonialplanungen für Afrika“ zwischen 1933 und 1945 nach.

Als „Konzentrationslager“ bezeichnete das Deutsche Kaiserreich schon im frühen 20. Jahrhundert seine tödlichen Camps im heutigen Namibia. Hier mussten die Gefangenen bis zum Tode schuften. Die zu den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus hinweisende Rassenbiologie trieb man mit pseudowissenschaftlicher Akribie voran. Schädel getöteter Menschen aus „Deutsch-Südwestafrika“ wurden für Untersuchungen nach Berlin verbracht und lagern bis heute in der Charité.

Mit dem Versailler Vertrag von 1919 hatte der Kriegsverlierer Deutschland seine kolonialen Eroberungen an die übrigen europäischen Imperien abzutreten. Paradoxerweise geriet das koloniale Phantasma nach Linne immer wirkmächtiger, je länger die konkrete Kolonialphase zurücklag. Mit Versprechungen konnte das rasch anwachsende und revanchistische Kolonialmilieu in die NS-Bewegung integriert werden, ohne dass Hitler wohl ernsthaft an eine Wiedereroberung der Kolonien glaubte. Gleichwohl baute man einen riesigen Apparat für künftige Kolonien auf: „Am Tage der ‚Erfüllung‘ stünde die ganze Organisation vom Gouverneur über den Stationsvorsteher bis zum letzen Straßenfeger bereit“, so beschreibt Linne die penible Bürokratie.

Der designierte Kolonialminister Franz Xaver Ritter von Epp stand für Kontinuität: Ab 1900 Mitglied des ostasiatischen Expeditionskorps, das den „Boxeraufstand“ in China niederschlug, war er als Kompaniechef am Genozid der Hereros in „Deutsch-Südwestafrika“ von 1904 bis 1906 beteiligt. Am 5. Mai 1934 wurde er Reichsleiter des neu gegründeten Kolonialpolitischen Amts (KPA) der NSDAP und kalkulierte mit einem Sofortbedarf von mindestens 500 bis 600 Arbeitsräumen für das geplante Ministerium.

In Ermangelung eigener Kolonialterritorien wurden deutsche Soldaten von der italienischen Kolonialpolizei in Äthiopien ausgebildet. Der Reichsforschungsrat bereitete eine Schulungsstätte in Spanisch-Guinea vor, während Straßenbauer der Generalinspektion Todt in den italienischen Kolonien fortgebildet wurden. Kolonialrecht, Kolonialpolizei und koloniale Wehrmacht, Kolonialpostbeamte, Kolonialfunk, Tropenmedizin, sogar Regierungsethnologen, eine Kolonialuniversität sowie ein Kolonialgerichtshof in Hamburg waren geplant.

„Es kennzeichnet die NS-Kolonialplanung, dass sie der wissenschaftlichen Erforschung der zu Beherrschenden, ihres Lebensraums, ihrer Sozial- und Wirtschaftsstrukturen und ihrer Sprache große Bedeutung beimaßen“, beschreibt Linne den Aufschwung der rassifizierten Wissenschaften. Die fehlende Reisemöglichkeiten nach Afrika kompensierten Afrikanisten und Tropenmediziner mittels afrikanischer Kriegsgefangener. So missbrauchte der Hamburger Dozent Johannes Lukas den späteren Staatspräsidenten von Senegal, Léopold Sédar Senghor, als „Sprachinformanten“.

Bei aller Afrika-Euphorie hatte die Expansion nach Osten mit ihren kolonialistischen Zügen von Vernichtung und Besiedlung stets Vorrang: „Erst nach der erfolgreichen Beherrschung Kontinentaleuropas (…) sollte dann die koloniale Expansion folgen, als Sprungbrett für den ‚Endkampf‘ mit den Vereinigten Staaten um die Weltherrschaft“, schreibt Linne.

Dabei löst der Autor jedoch den Widerspruch nicht auf, warum das afrikanische Kolonialprojekt zumindest bis zu den militärischen Niederlagen im Frühjahr 1943 massiv vorangetrieben wurde. Auch die Filmindustrie trug zum Kolonialhype bei. „Einen Tag vor der Premiere von ‚Carl Peters‘ hatte die Öffentlichkeit erstmals von der Bildung des Deutschen Afrika-Korps erfahren“, beschreibt Linne die propagandistische Kopplung.

Offenbar dienten die abwesenden Kolonien als ideale Projektionsflächen, um dahinter glänzende Geschäfte zu betreiben. Im Unterschied zum vormaligen Raubbau plante man eine gelenkte Wirtschaft und rationalisierte Landwirtschaft. Die Deko (Gruppe Deutscher Kolonialwirtschaftlicher Unternehmungen) unter Leitung von Kurt Weigelt – als Direktor der Deutschen Bank deren „Außenminister“, nach 1945 verurteilter Kriegsverbrecher und 1954 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichneter Vorsitzender der Deutschen Lufthansa AG – verknüpfte Industrie und Handel mit dem kolonialen Projekt. Für Weigelt bildete der Raum Goldküste-Togo-Dhomey-Nigeria-Kamerun den Kern eines künftigen „Mittelafrikas“ unter der Hakenkreuzfahne und sollte „zum Ergänzungsraum“ für das „Neue Europa“ werden“, betont Linne. Hierfür wurde der Rückerwerb vormals deutscher Pflanzungen in Kamerun oder die Ausbeutung von Phosphaten in Marokko vorangetrieben. Aktien und Anteile der deutschen Kolonialgesellschaften gehörten 1940 zu den bevorzugten Wertpapieren der Börsen.

Am 31. Januar 1943 kapitulierte die Wehrmacht in Stalingrad; Mitte Mai streckten die Reste des Afrika-Korps in Tunesien die Waffen. „Es begann die Phase der Abwicklung.“ Die deutsche Afrika-Politik wandelte sich erst im Zuge der Befreiungskämpfe vormals Kolonialisierter um 1960.

Karsten Linne: „Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika“. Ch. Links Verlag, Berlin 2008, 216 Seiten, 24,90 Euro