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Archiv-Artikel

Kamikaze und Camus-Liebhaber

Er prügelte, genoss Luxusrestaurants, liebte „Mein Kampf“ und „Der Fremde“: Der Stockholmer Mordverdächtige gilt als „Borderline“-Persönlichkeit

Wenn ich ihn in den letzten zehn Jahren getroffen habe, hat es nur Ärger gegeben

aus Stockholm REINHARD WOLFF

Den Spitznamen „Kamikaze“ hat er bei seinen Kameraden im Fußballfanklub. „Weil er sich immer als Erster in den Kampf stürzte“, erzählt einer von ihnen der Stockholmer Tageszeitung Expressen. DFG, „Djurgårns Fina Grabbar“, heißt die berüchtigte Hooligangruppe des Stockholmer Fußballklubs Djurgården: „Die netten Jungs von Djurgården“. Regelmäßig landen sie wegen Schlägereien mit gegnerischen Fanklubs in den Schlagzeilen. Ein DFG-Gegner wurde vor Monaten von einem Gruppenmitglied mit einer Eisenstange erschlagen. Seit Anfang der 90er-Jahre ist der unter dem Verdacht des Mordes an der schwedischen Außenministerin Anna Lindh verhaftete Mann einer dieser rund hundert „netten Jungs“. Es gibt Fernsehbilder von solchen Hooligan-Schlägereien, auf denen man ihn erkennen kann. Wie er um sich schlägt, anderen in den Magen tritt.

Vor dem Fußballstadion war er am Dienstagabend auch verhaftet worden. Der von der Polizei bislang nur als „35-Jähriger“ charakterisierte Mann hatte sich zusammen mit achtzig bis neunzig anderen Fans in der Fußballkneipe „East End Company“ am Fernsehgroßbildschirm die erste Halbzeit des Lokalderbys zwischen den beiden Stockholmer Klubs Djurgården und Hammarby angesehen. In der Halbzeitpause verließ er mit einem Freund das Lokal, um hinüber zum „Råsunda“-Stadion zu gehen. Dort wollten sie den Rest des Spiels im Kreise ihrer Fangruppe und zusammen mit den anderen 36.000 BesucherInnen verfolgen. Mit auf der Tribüne im Fußballstadion saßen Bo Holmberg, Gatte der ermordeten Außenministerin, und deren beide acht- bzw. zwölfjährigen Söhne. Die Polizei wartete schon auf den Mann. Bereits im Restaurant war er von Zivilfahndern überwacht worden. Von anderen Gästen war offenbar der heiße Tipp gekommen. Die Festnahme geschah um 21.07 Uhr. Ohne Widerstand ließ sich der Mann zum Polizeiwagen führen. In einer blauen Jacke mit einem DDR-Aufdruck auf dem Rücken.

„Ich bin ein Psychopath“, soll er von sich selbst gesagt haben, berichtet ein Bekannter in Expressen. Menschen, die ihn kennen und sich am Mittwoch gegenüber verschiedenen schwedischen Medien äußern, gebrauchen Bezeichnungen wie Doppelnatur, Chamäleon. Sein Stiefvater – der ihn sich als Täter nicht vorstellen kann: „Für solch eine Tat ist er zu feige“ – beschreibt ihn gegenüber der Nachrichtenagentur TT als „zwei Menschen“: „In einem Moment ist er die Freundlichkeit selbst, im nächsten meint man, er habe alle Schrauben locker.“ In Zeitungen und vom Rundfunk interviewte Freunde schildern den berüchtigten Hoologan gleichzeitig als sehr belesen, begabt und intelligent. Interessiert an Literaturgeschichte sei er gewesen, verbal begabt, er habe sich blendend ausdrücken können. Ein Mensch sei er, der keinem Tier etwas zuleide tun könne.

Übereinstimmend ergibt sich aus den zahlreichen Beschreibungen das Bild eines Mannes, der sich an einem Tag literweise mit Bier voll kippen konnte, um mit seinen DFG-Freunden grölend die Umgebung unsicher zu machen, und am nächsten Tag in einem feinen Stockholmer Restaurant zu finden war. Im „Kharma“ und „Sturehof“ ließ er die Champagnerkorken knallen. Wie er das alles und seinen Drogenkonsum – er sei Alkoholiker, berichtet ein Bekannter, seine Lieblingsdroge sei Kokain gewesen, außerdem habe er Rohypnol geschluckt – finanzierte, ist unklar. Eine feste Arbeit hat er nie gehabt und Sozialhilfe bezogen. Das Auto, das er ohne Führerschein fuhr, war nicht versichert und versteuert. In seinem Vorstrafenregister, das 49 Eintragungen umfasst, tauchen die Straftaten Betrug, Unterschlagung und Diebstahl mehrmals auf. Mehrere Kreditkartenbetrügereien sind hier ebenfalls aufgelistet.

Zur rechtsradikalen Szene in Schweden soll er Verbindungen gehabt haben. Die Tageszeitungen Aftonbladet und Svenska Dagbladet melden übereinstimmend, dass er mit einem führenden schwedischen Neonazi befreundet sei, einem Mann, dem verschiedene Luxuswohnungen im vornehmen Stockholmer Stadtteil Östermalm gehörten, die von der Polizei in der Nacht zum Mittwoch durchsucht worden seien. Zu diesen Angaben würde es passen, dass er sich – wieder laut Zeugnis von Bekannten – öfters mit einem „Heil Hitler!“ in den Kampf mit anderen Hooligans gestürzt habe. Er sei fasziniert vom Zweiten Weltkrieg gewesen, habe nicht nur „Mein Kampf!“ im Bücherregal stehen gehabt, sondern auch andere nazistische Schriften. „Er erzählte, er habe sich eine SS-Uniform gekauft“, berichtet ein Bekannter Expressen, „die er öfters zu Hause vor dem Spiegel anzog.“ Über „Neger“ sei er hergezogen, die eine niedere Klasse Menschen seien. Sein Stiefvater spricht von abschätzigen Äußerungen über Ausländer und überhaupt über solche Menschen, die er verachte, „wie Arbeiter“.

Mikael Ekman von der antinazistischen Publikation Expo bestätigt aus seiner Kenntnis der braunen Szene Stockholms der taz, „lose Verbindungen“ des Mannes zu Neonazis. In deren Kreisen, in gleichen Lokalen wie diese habe er sich hin und wieder bewegt. Ekman glaubt aber nicht an einen politischen Tathintergrund: „Wenn man da etwas sucht, findet man bei ihm vielleicht auch Kontakte zu Linksextremen. Ich halte ihn ganz einfach für einen Kriminellen.“ Tatsächlich versuchten sich neonazistische Organisationen in Schweden in den letzten Jahren gerade von solch unberechenbar gewaltsamen Personen zu distanzieren, als welcher der Verhaftete beschrieben wird.

Sein Bruder hat schon lange keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt: „Wenn ich ihn irgendwann in den letzten zehn Jahren getroffen habe, hat es nur Ärger gegeben“, zitiert ihn Expressen. Einige Tage vor Silvester letzten Jahres erwirkte sein Vater einen gerichtlichen Beschluss, mit dem seinem Sohn jeglicher Kontakt zu ihm untersagt wurde. Er hatte sich bei vorherigen Besuchen von diesem ernsthaft bedroht gefühlt. Kurze Zeit später verhängte ein Gericht auf Antrag seiner vom Vater getrennt lebenden Mutter mit gleicher Begründung ein derartiges „Besuchsverbot“ gegen ihn. Trotzdem wohnte er in den letzten Monaten zeitweise bei dieser Mutter in der westschwedischen Stadt Varberg und war dort auch polizeilich gemeldet. Das Verhältnis zur Mutter sei immer „kompliziert“ gewesen, hat Aftonbladet von verschiedenen Bekannten erfahren. Aus einem Sozialbericht, der 1991 im Rahmen eines Gerichtsverfahrens gemacht wurde, wird zitiert: „Seine Umgebung beschreibt ihn als abweichend, schwer zugänglich, unreif, leicht zu provozieren, gefühlskalt und zynisch. Seine psychische Instabilität führt dazu, dass er mit Aggressionsausbrüchen reagiert, wenn ihm etwas gegen den Strich geht.“

Eine rechtspsychiatrische Untersuchung, der er sich angesichts eines Strafverfahrens im vergangenen Jahr unterziehen musste, da Verdacht auf mögliche teilweise Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen war, und aus der mehrere Zeitungen zitieren, kam zum Ergebnis, dass keine „ernste psychische Störung“ zu erkennen sei. Er sei eine „Borderline“-Persönlichkeit mit einem Hang zu impulsiver und unbegründeter Gewalt. Von Anpassungsproblemen bereits während der Schulzeit ist die Rede. Er selbst gab in Gerichtsverfahren zu Protokoll, dass er an Computertechnik interessiert sei und sich mit Webdesign beschäftige.

Mal ist er die Freundlichkeit selbst, mal meint man, er habe alle Schrauben locker

Was den Tathergang angeht, so geht die Polizei von einer Spontantat aus. Anna Lindh sei ihrem Mörder auf der Treppe begegnet, wo dieser seinen Tatentschluss fasste. Psychologen und Kriminologen, welche sich in schwedischen Medien äußerten, halten einen solchen Tatablauf für durchaus nachvollziehbar. Auch das Persönlichkeitsprofil, welches bislang von dem Verhafteten bekannt sei, passe auf einen solchen Täter. Eine Person, welche viele, wenn auch relativ leichte Straftaten begangen habe, die gewaltbereit sei und impulsiv handle.

Eiskalte Mörder scheinen ihn tatsächlich fasziniert zu haben. Ein Bekannter berichtet Expressen, eine Lieblingslektüre des 35-Jährigen sei „Der Fremde“ von Albert Camus gewesen, die Geschichte eines Mannes, der nach außen hin ein ganz alltägliches Leben führt. Der keine Gefühle zeigt, auch nicht beim Tod seiner Mutter, zu der er ein kompliziertes Verhältnis hat. Und der aus einem Zufall heraus zu einem Mörder wird. Eine Tat, die er auch selbst nicht erklären kann.

Schwedens Polizei gibt sich nach außen noch vorsichtig, scheint sich intern – wie Insider-Informationen wissen wollen – aber sicher, die richtige Person verhaftet zu haben. Führen die Verhöre mit ihm zu keinen durchschlagenden Argumenten für oder gegen diese Annahme, werden vermutlich Sachbeweise ausschlaggebend sein. Die Polizei hofft, dass sich sowohl auf dem Messer, der Tatwaffe, als auch auf einer Kappe, die vermutlich vom Täter stammt, ausreichende DNA-Spuren befinden. Beide Beweisstücke wurden an ein Speziallabor in Birmingham geschickt, da Schweden selbst nicht über die erforderliche Spezialtechnik verfügt. DNA-Proben sind auch von dem Verhafteten genommen worden.

Zur Frage, ob dieser die Tat leugne, lehnte die Polizei jeden Kommentar ab. Würde er sich selbst wie der Held des Camus-Romans sehen, müsste er eigentlich, wie dieser, die Tat ohne Umschweife gestehen. Sollte er denn der Täter sein.