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Archiv-Artikel

Oh Freiheit, wie bist du bedrückend

Was früher in erster Linie als externer Zwang wahrgenommen wurde, ist heute nach innen gerutscht

VON SONJA EISMANN

An einem Samstagabend in der Straßenbahn. Neben mir steht eine Gruppe von zwei braven jungen Männern um die 20 und zwei Teenie-Mädchen. Beide tragen trotz der Kälte kurze Röcke, dünne Strumpfhosen und Pumps mit sehr hohen Absätzen. Die Füße der einen sind so weit nach vorne gerutscht, dass ihre Fersen bei jeder Bewegung am Schuhrand scheuern. Die Füße der anderen quellen über die Ränder der zu kleinen Schuhe und haben sich bereits rot verfärbt. Als ein Platz frei wird, setzt sich der eine junge Mann – im bequem-unauffälligen Freizeitlook – sofort hin, das ihm zugeordnete Mädchen bleibt freundlich lächelnd stehen. Ich kann nicht aufhören, auf ihre geschwollenen Füße zu starren. Was für ein Durchhaltevermögen.

Diskussionen über einengende Bekleidungsvorschriften, Reformkleidung und Anti-Fashion, also historisch essenzielle Themen der Frauenbewegung, sind heute mausetot – und wenn sie doch noch mal aufgescheucht werden, dann nur noch, damit kichernd über den „Schlabberlook“ der Feministinnen der 1970er-Jahre der Kopf geschüttelt werden kann.

Zum „erlaubt ist, was gefällt“ wird besonders von emanzipierten Frauen gerne ein erleichterter Seufzer ausgestoßen. Damit grenzt man sich von der vermeintlichen Unsexiness der „befreiten“ Müttergeneration ab. Natürlich ist es genau das, worum es bei der Abstreifung von Normen gehen muss – aber warum wird diese Freiheit heute so restriktiv genützt? Warum pochen heute Feministinnen auf das reichlich lästige „Recht“, sich ihre Beine rasieren zu dürfen, während ganz junge Mädchen nolens volens die komplette Intimrasur praktizieren, weil alles andere in der Clique als „eklig“ gelten würde? Warum führt die größere Freiheit, die durch Jahrhunderte von Reformkleidern, Bloomer Fashion, Frauenhosen und Hippie-Wallegewändern für Frauen erkämpft wurde, nur dazu, dass immer strengere Standards bestimmen, was nun sexy sei und was nicht? Und warum müssen eigentlich auf einmal dauernd alle sexy sein wollen?

Die Antwort ist so einfach wie komplex: weil das, was früher in erster Linie als externer Zwang wahrgenommen wurde, heute nach innen gerutscht ist. Wo zwischen unförmigen Hiphop-Baggy-Pants und Pornodarstellerin im Moderepertoire theoretisch alles möglich ist, gilt das Primat der Freiwilligkeit. Und auch wenn immer mehr junge Buben mit gezupften Brauen, eingegeltem Haar und bratwurstbraunem Solarium-Teint auftauchen, gilt jenes doch vor allem für Frauen.

Die Disziplinierung des möglichst normgerecht erotischen Körpers – die Normen gibt’s gratis aus der Mainstream-Popkultur – geschieht eben nicht, weil man bzw. frau muss, sondern weil sie will. Und gegen Freiwilligkeit lässt sich schwer argumentieren. Ein Selbstentwurf abseits von den unrealistischen Glamour-Figuren aus Clips und Werbungen wäre ja leicht möglich, erschiene aber umso viel weniger begehrenswert als die machtvollen Vorbilder aus endlos langen Streichholzbeinen, Minitaille und Superbusen – um deren Manipulation durch Photoshop und Konsorten man selbstverständlich weiß, die aber gerade durch diese Unerreichbarkeit umso wirkungsmächtiger werden.

Ist das nun selbstbestimmt sexy – oder sexistisch? Es wäre schön, wenn mit dem neofeministischen Slogan „Frauen dürfen sexy sein wollen, aber sie dürfen es nicht müssen“ alles gesagt wäre. Ist es aber nicht. Nachdem sich in den 1990er-Jahren zumindest in alternativen Kreisen zunächst ein sensiblerer Umgang mit möglichen Diskriminierungen durchgesetzt hatte, wurden wir ungefähr zur selben Zeit mit einer Armada von „ironischen“ Bildern bombardiert. Fotos von Frauen in dämlich-aufreizenden Posen, gerne „retro“, oder auch mal von Schwarzen mit dicken Lippen und grellweißen Augen, waren nun nicht mehr sexistisch oder rassistisch, sondern sie waren „lustig“. Und hey, wer keinen Spaß versteht, ist einfach nur verkrampft.

Dabei ist Sexismus auch heute noch omnipräsent. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass auf Plakatwänden und im Fernsehen Waren mit sexuell anziehenden Frauenkörpern verkauft werden, dass uns das nicht ausbeuterisch, sondern ganz normal vorkommt. Wir finden es verständlich, dass Politikerinnen – Stars der Unterhaltungsbranche natürlich sowieso – immer damit rechnen müssen, dass ihr Äußeres einer erbarmungslosen Analyse unterzogen wird, während Männer nur bei auffälligsten Style-Querschlägern mit Kommentaren zu rechnen haben. Und so erscheint es eben auch normal, dass Frauen sehr viel Zeit, Energie und Geld darauf verwenden, gut und sexy auszusehen, und Faktoren wie Bequemlichkeit oder Beweglichkeit außer Acht lassen. Sie müssen ja nicht, sie wollen nur – weil sie sich dann „wohler“ fühlen.

Es vermittelt Sicherheit, zu entsprechen, zu genügen. In der Drag-King-Szene gibt es dafür den schönen Begriff des „passing“ – also ungeachtet des biologischen Geschlechts in der Öffentlichkeit als Mann durchzugehen. Was hier einen spielerischen, überschreitenden Charakter hat, wird von vielen Frauen täglich in langwieriger Arbeit am eigenen Körper aufgeführt, um in der Gesellschaft als „echte“ und damit möglichst attraktive Frau „durchzugehen“.

Die immer unrealistischeren Anforderungen an junge Frauen, sexy, schlank und zu allen Demütigungen bereit zu sein wie ein werdendes „Supermodel“, werden zwar mitunter kulturpessimistisch kritisiert. Doch geschult und abgestumpft durch unzählige Make-Over-Sendungen, Schönheits-OP-Tests und Attraktivitäts-Vergleich-Shows, hat sich die Bewertung von jungen Körpern, vor allem denen von Frauen, anhand ihrer sexuellen Attraktivität als selbstverständlich etabliert. Dabei ist das Belohnungssystem in seiner Paradoxie durchaus frustrierend: jene Frauen, die als besonders sexy gelten, werden oft auch als jene gebrandmarkt, die zu viel Energie für ihr Äußeres verschwenden und letztlich dumm und wertlos seien.

Wie also mit diesen doppelten Botschaften umgehen? Zumindest so: froh sein, dass es schon drei Wellen von Feminismus gab und gibt, die uns mit einem größeren Arsenal an Widerstands-Potenzialen ausstatten, als es zunächst den Anschein hat – und sich in Erinnerung rufen, dass neben einer hypersexualisierten Norm auch massenhaft Nischen von Emo-Boys über Kampfsportgirls bis zu aufgeklebten Mädchenbärten zu finden sind. Froh darf man zum Schluss auch darüber sein, dass sich im kulturellen „Untergrund“ nicht normierte Idole tummeln wie die dicke Beth Ditto von der Band The Gossip oder die maskuline JD Samson von der Band Le Tigre. Die sind sexy, weil sie Selbstbestimmtheit und Autorität ausstrahlen und sich nicht, im wahrsten Sinne des Wortes, klein machen oder in aktuelle Schönheitsnormen quetschen lassen.

SONJA EISMANN, 36, ist Herausgeberin von „Missy Magazine. Popkultur für Frauen“ und trägt wie ihre Mutter nur selten unbequeme Schuhe