: ,,Die Landesregierung sollte in der Türkei werben“
Türken sind innovativ und risikofreudig, sagt Faruk Șen. Deshalb seien sie die ideenreichsten Geschäftsleute, fielen aber auch häufiger auf die Nase. Seine Prognose ist düster: Die Türkischstämmigen in NRW verarmten zunehmend und hegten häufiger den Wunsch, zurückzukehren
taz: Herr Șen, wie ist die Stimmung unter den hier lebenden türkischstämmigen Menschen?
Faruk Șen: Die Unzufriedenheit nimmt zu. Es gibt vermehrt psychische und auch Drogen-Probleme. Wir haben bei unserer jährlich durchgeführten repräsentativen Umfrage unter 1.000 erwachsenen Türkeistämmigen eine steigende Tendenz bei der Rückkehrbereitschaft festgestellt. Diese ist von 20,7 Prozent 2001 auf 28,5 Prozent im letzten Jahr gestiegen. Was nicht heißt, dass die Menschen auch wirklich zurückgehen werden. Absolute Zahlen zeigen, dass von den 2,6 Millionen Türken hier jährlich nur 40.000 zurückkehren, aber 65.000 kommen neu durch Heirat und anderes dazu.
Liegt das an der schwieriger werdenden Wirtschaftslage?
Wir stellen eine Verarmung der türkischen Migranten fest. 24 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Türken sind arbeitslos. Zum Vergleich: Die generelle Arbeitslosenquote in Deutschland liegt bei 10,5 Prozent, Migranten sind zu 19 Prozent ohne Job. In NRW sind sogar über 25 Prozent der Türken arbeitslos, im Ruhrgebiet liegt die Quote mancherorts bei annähernd 30 Prozent Langzeitarbeitslose – und das sind rund 60 Prozent der türkischen Arbeitslosen – sind ein Problem, Senioren mit ihrer meist sehr niedrigen Rente ein zweites.
Die Hartz-IV-Reformen werden die Lage also weiter verschärfen?
Viele Türken werden davon betroffen sein. Ab 2007, wenn die Ziel-2-Förderung für das Ruhrgebiet ausläuft, befürchte ich, wird es noch schlimmer. Entweder machen die Leute sich selbständig oder sie kehren wie viele Griechen und Spanier zurück.
Welche Chancen haben türkischstämmige Selbständige?
In Nordrhein-Westfalen sind mittlerweile 20.500 türkische Unternehmer in 115 verschiedenen Sparten tätig, 11.000 davon im Ruhrgebiet. Sie haben 55.000 Arbeitsplätze geschaffen und repräsentieren ein Investitionsvolumen von 1,5 Milliarden Euro. Nach einer Flaute von 2000 bis 2002 läuft es in diesen Betrieben wieder recht gut.
Woher kommt dieser Erfolg?
Türken sind innovativ und risikofreudig. Außerdem arbeiten sie mit sehr viel Eigenkapital, weniger mit Krediten. Vom Schraubenfabrikanten über Consulting- und IT-Unternehmen bis zu Detekteien und Putzfirmen reicht das Spektrum. Angefangen haben die Türken übrigens auch wie die anderen Einwanderer mit ethnischen Firmen wie Lebensmittelgeschäften, Änderungsschneidereien, Reisebüros und Gastronomie. Die anderen sind dabei geblieben, die Türken aber haben seit den frühen 90er Jahren andere Bereiche für sich entdeckt.
Ist das mentalitätsbedingt?
Die Leute haben gesehen, dass man in den traditionellen Branchen nicht sehr weit kommt. Aufgrund der Risikofreude erleben wir aber auch sehr viel mehr Konkursfälle bei den Türken als bei anderen. Und die Konkurssummen sind auch sehr viel höher. Unser Zentrum für Türkeistudien (ZfT) leistet übrigens bei der Beratung türkischstämmiger Unternehmer und Gründer mit Migrationshintergrund konkrete Hilfe durch seine Regionalen Transferstellen in Duisburg und Essen. Auch in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Berlin beraten wir vor Ort.
Herr Șen, Sie selbst kamen einst als Gaststudent von Istanbul nach Münster. NRW scheint aber für türkische Studenten heute nicht mehr sehr attraktiv zu sein?
Das ist wirklich ein Defizit. Es gibt z.Zt. 11.000 türkischstämmige Studenten in NRW, nur 3 bis 4 Prozent davon kommen aber wirklich aus der Türkei, die anderen sind Migrantenkinder. Bei der privaten Uni Bremen kommen aber zehn Prozent der Studenten aus der Türkei und zahlen dafür 18.000 Euro pro Jahr. Den Türken liegt viel an einer guten Ausbildung für ihre Kinder. Nur gehen die heute leider vorwiegend in die Schweiz oder die USA.
Was machen wir falsch?
Ich würde unserer Landesregierung empfehlen, eine gezielte Werbeaktion in der Türkei zu machen, um wirklich gute Leute hierhin zu holen, die danach zurück in die Türkei gehen und Schlüsselpositionen besetzen. Bis 1977 kamen die Leute ja, z.B. Yesut Yilmaz, der in Köln studiert hat und dann Ministerpräsident in der Türkei wurde. In den letzten 13 Jahren waren nur drei NRW-Landesminister in der Türkei. Baden-Württemberg und Bayern pflegen ihre Kontakte besser.
Auch Städte- oder Regionalpartnerschaften sind selten?
Sie gibt es fast gar nicht. Mit Russland, Polen und anderen Ländern gibt es viel mehr. Die Koalitionsvereinbarungen sehen vor, eine Regionalpartnerschaft zwischen NRW und einer türkischen Region nach dem Vorbild der Partnerschaft mit Schlesien zu gründen. Das ZfT hat dann vor vier Jahren im Auftrag der Regierung drei Gutachten gemacht. Seitdem ist wenig passiert.
Könnte sich etwas ändern durch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei?
Diese Frage können Sie mir noch mal am 17. Dezember stellen. Ich gehe davon aus, dass die EU auf ihrem Gipfel dann der Türkei einen Termin Anfang 2005 für den Beginn von Beitrittsverhandlungen nennt und das Land spätestens zum 1. Januar 2013 Mitglied sein wird.
Woher der Optimismus?
Die Türkei hat alle Kopenhagener Kriterien erfüllt. Es gibt jetzt kein „wenn und aber“ als Ausrede mehr. Entweder die EU bleibt ihrem Wort treu oder sie muss der Türkei sagen „Ätsch, ihr seid Moslems, ihr gehört zu einem anderen Kulturkreis und könnt nicht in unseren Klub.“ Aber ich glaube nicht, dass die europäischen Politiker so dumm sein werden, dies zu tun.
Aber ausgeschlossen ist es auch nicht?
Nein. Aber dann wird es nicht an der Reformpolitik der Türkei gelegen haben.
INTERVIEW: HOLGER ELFES