: Wem gehört die Oder?
Wenn Deutsche und Polen jeweils ihre eigene Oder ausbauen, bleibt Europa auf der Strecke. Und der Umweltschutz
VON UWE RADA
Mag sein, dass manche das für eine Lappalie halten. Da nimmt sich ein Fluss die Freiheit, einen kleinen Nebenarm zu bilden, an dem entsteht ein Biotop, das bremst den Lauf des Flusses etwas, Natur eben.
Wasserbauer, jene Spezies, die die Flüsse zunächst nach ihrem Soll, weniger nach ihrem Haben beurteilen, halten das nicht nur für eine Lappalie, sondern für eine Störung. Also wird dem Fluss seine kleine Freiheit wieder genommen und der neue Nebenarm mit Sand zugeschüttet. Und wenn dann die Naturschützer kommen, und nach Dingen wie Umweltverträglichkeitsprüfungen, Wasserrahmenrichtlinien, Flora-Fauna-Habitat- oder Natura-2000-Bestimmungen fragen, wird das Ganze zur „baulichen Unterhaltungsmaßnahme“ erklärt. Sonst noch Fragen?
All das ist keine Fantasie, sondern geschieht an der Oder immer wieder. Zuletzt entdeckten Mitarbeiter des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), dass an der Stromoder nördlich von Hohensaaten ein solcher Nebenarm zugeschüttet wurde. Man wolle den Zustand vor dem Jahrhunderthochwasser von 1997 wiederherstellen, sagt die Bauleiterin der polnischen Wasserbauverwaltung. „Unsinn“, sagt Winfried Lücking, der Gewässerspezialist des BUND. „Den Nebenarm gab es schon seit 1992.“ Die polnischen Bauarbeiten sind für Lücking darüber hinaus ein „massiver Eingriff“. Schließlich befinde sich das betreffende Ufer in einem Landschaftsschutzgebiet und sei als schützenswertes Natura-2000-Gebiet vorgesehen.
Warum aber erhebt dann neben dem BUND und dem internationalen Bündnis „Zeit für die Oder“ keiner Einspruch gegen den illegalen Ausbau auf der polnischen Seite? Warum greift der brandenburgische Umweltminister nicht zum Telefonhörer und beschwert sich beim polnischen Kollegen in Stettin?
Um den Streit mit den Polen nicht weiter anzuheizen, meint dazu Winfried Lücking. In Wirklichkeit gehe es nämlich um weit mehr als einen polnischen Eingriff in den Flusslauf. Im Mittelpunkt stehe vielmehr die Frage: Wem gehört die Oder? Den Deutschen oder den Polen?
Angefangen hatte alles mit dem Oderhochwasser von 1997. Während die zahlreichen Helfer in Deutschland und Polen noch mit den Aufräumarbeiten beschäftigt waren, zogen die Wasserbauer bereits ihre Ausbaupläne aus der Schublade. „Program dla Odry 2006“ – „Programm für die Oder 2006“ hieß die Wunderwaffe auf polnischer Seite, ein groß angelegtes und milliardenschweres Programm zum Hochwasserschutz. So zumindest wurde es der Öffentlichkeit verkauft.
Tatsächlich aber verbirgt sich hinter dem Programm, das am 6. Juli 2001 vom Warschauer Sejm verabschiedet wurde, die Fortsetzung des von der deutschen Oderstrombauverwaltung vor 1945 betriebenen Ausbaus der Oder zur internationalen Schifffahrtsstraße. Dass sich die Natur seit der Grenzziehung an der Oder den Fluss an vielen Stellen zurückgeholt hat, auch das ist für die Wasserbauer eine Nebensächlichkeit. Das gilt auch für den soeben entdeckten Ausbau der Stromoder im Cedyński Park Krajobrazowy. Der Zehdener Landschaftsschutzpark gehört eben nicht nur zum „Internationalpark“ Unteres Odertal. Er ist auch Teil des Ausbauprogramms Oder 2006.
Aber auch auf der deutschen Seite nutzten die Wasserbauer die Gunst der Stunde. Mittlerweile ist der Oder-Havel-Kanal von Berlin nach Hohensaaten und seine Weiterführung nach Stettin in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen. Doch anstatt auf den Ausbau der Stromoder setzt die deutsche Seite ab Hohensaaten auf den Ausbau der so genannten Hohensaaten-Friedrichsthaler Wasserstraße (HoFriWa) (siehe Kasten). Wo es noch keine europäische Lösungen gibt, da will eben jeder seine eigene Oder schifffahrtstauglich machen.
Dass es noch keine europäische Lösung gibt, hat natürlich auch wirtschaftliche Ursachen. Seit langem schon versucht das brandenburgische Schwedt, dem polnischen Stettin ein Stück vom Güterumschlag auf dem Wasser streitig zu machen. Für 34 Millionen Euro hat Brandenburg deshalb den Schwedter Hafen an der HoFriWa hochseetauglich gemacht. Nun können dort auch Küstenmotorschiffe mit einem Tiefgang von 4,50 Metern be- und entladen werden.
Die Schwedter Stadtväter erhoffen sich davon, auf die Umladung der Güter in Stettin verzichten zu können. Bisher nämlich wird die Ladung der beiden Schwedter Papierfabriken Leipa und Heindl in kleineren Schiffen nach Stettin gebracht und dort auf die großen Küstenmotorschiffe umgeladen.
Das Problem bei den Schwedter Hochseeträumen ist nur: Bislang sind sie ein Papiertiger. Die 9,4 Kilometer lange Verbindung zwischen dem neuen Hafen und der Westoder ab Friedrichsthal muss nämlich erst noch für die hochseetauglichen Küstenschiffe ausgebaut werden. Dem freilich steht der Nationalpark Unteres Odertal entgegen, durch dessen Kernzone die HoFriWa in weiten Teilen führt.
In Stettin beobachtet man die deutschen Pläne ohnehin mit Argwohn. Konkurrenz für den eigenen Hafen? Nein danke. Deshalb blockiert die Stadtverwaltung seit Jahren die Anhebung zweier Brücken, ohne die für die Küstenmotorschiffe aus und nach Schwedt kein Durchkommen wäre.
Stattdessen setzt auch Stettin auf den Ausbau der Stromoder. Und dies, obwohl dieser eigentliche Flusslauf wegen der für die Oder so typischen Pegelschwankungen nur bedingt schifffahrtstauglich ist. Immerhin wurde die HoFriWa 1905 eigens wegen dieser Unwägbarkeiten der Stromoder gebaut.
Mittlerweile beobachtet man auch in Brüssel den deutsch-polnischen Streit um die Oder mit zunehmender Skepsis. Schon vor zwei Jahren hatte die damalige Umweltkommissarin Margot Wallström deutlich gemacht, dass für sie nur eine einvernehmliche Lösung in Frage kommen könne. Ohnehin gibt es Geld aus Brüssel nur, wenn auf Parallelausbauten verzichtet wird.
Auch die Bundesregierung hat sich inzwischen dieser Auffassung angeschlossen. Im 2003 verabschiedeten Bundesverkehrswegeplan wird zwar an der „Vorrangigkeit“ des Ausbaus der HoFriWa festgehalten. Ein solcher Ausbau, so der salomonische Beschluss, dürfe aber nur im Einvernehmen mit der polnischen Seite stattfinden. Damit war der deutsche Ausbau vorläufig gestoppt.
Eine europäische Lösung war damit aber noch lange nicht gefunden. Zwar prüft eine deutsch-polnische Arbeitsgruppe inzwischen mehrere Ausbauvarianten im unteren Odertal. Doch eine Einigung, ursprünglich für Dezember 2003 anvisiert, ist längst nicht in Sicht. Westoder oder Ostoder, das ist inzwischen auch zur Prestigefrage geworden.
Dabei sei eine europäische, das heißt grenzüberschreitende Lösung ganz einfach, meint BUND-Experte Winfried Lücking. „Man kann die HoFriWa schon mit geringen Mitteln für so genannte Rheinschiffe tauglich machen.“ Die Stromoder, der gerade ein Stück Flussfreiheit genommen wurde, könne man sogar streckenweise renaturieren.
Was auf den ersten Blick auf Kosten der polnischen Pläne geht, hätte allerdings auch für die deutsche Seite einen Haken. Zum einen könnten die „Rheinschiffe“ nur einspurig verkehren. Zum andern würde auf den Ausbau für die größeren Küstenmotorschiffe ganz verzichtet. Das Schwedter Papier der Firmen Leipa und Heindl müsste auch weiterhin in Stettin auf die Seeschiffe umgeladen werden.
So viel europäische, das heißt umweltverträgliche Lösung lässt inzwischen sogar die deutschen und polnischen Wasserbauer wieder zusammenrücken. „Eine Renaturierung der Stromoder“, sagt Peter Huth, Sachbereichsleiter im Wasser- und Schifffahrtsamt Eberswalde, „würde auf Dauer zu Ablagerungen und Problemen beim Hochwasserabfluss führen.“
So wie bei den kleinen Oderinseln und ihrem Nebenlauf, der nun zugeschüttet wurde.