normalzeit : HELMUT HÖGE übers Reisen
Geopolitik von unten
Nach der Reisesaison kommt eine Phase der -auswertung, und dann der -ausstellung. Zu verweisen wäre aktuell z. B. auf die gerade zu Ende gegangene „Sibirien“-Ausstellung des Weitgereisten Levin Schulte im Kreuzberger „Küchenstudio“, die Gorillabilder des holländischen Künstlers Johan Zetterquist im Künstlerhaus Bethanien, die Litauenfotos von Mona Filz in der Galerie am Prater und in toto auf die gerade eröffnete Ausstellung „Learning from“ über Bombay, Ruhleben, Wien, Istanbul, Genua, Warschau und andere „Städte von Welt“ in den Kreuzberger NGBK-Räumen.
Laut Goethe ziemt den Reisenden „ein skeptischer Realism“, und für Kant dient das Reisen der Erweiterung der Menschenkenntnis – das „Lesen der Reisebeschreibungen“ tut es allerdings auch, meint er, denn „die Generalkenntnis geht hierin immer vor der Lokalkenntnis voraus“ und Erstere erwirbt man sich anständigerweise im Zuge seiner Kenntnis der Mitmenschen zu Hause. Nur durch den „Umgang“ mit ihnen weiß man erst, „wonach man auswärts suchen solle. Ohne einen solchen Plan bleibt der Weltbürger […] immer sehr eingeschränkt.“
Die o. e. Künstler hatten solche „Pläne“ – die sie dann bei den entsprechenden Kunsteinrichtungen einreichten. „Aber wirkliche Weltläufigkeit […] ist durch Reisen in ferne Länder nicht zu gewinnen“, gibt Oskar Negt bezugnehmend auf Kant im Vorwort eines Chinabuches 1988 zu bedenken, in dem seine generalkenntnishafte Aufarbeitung einiger reisetagebuchmäßig notierter Lokalkenntnisse dem Königsberger Philosophen noch einmal Recht gibt. Das unterscheidet den Hannoveraner Professor jedoch von den o. e. Künstlern, die den induktiven Verfahren den Vorzug gaben.
Dies trifft vor allem auf das „Litauen“ von Mona Filz zu, aber auch auf das „Bombay“ von Merle Kröger – es ist ein stetes Bohren, Übergrübeln und Nachhaken, das genau genommen nie an ein Ende gelangt. Dem kommt eine neudeutsche Tendenz entgegen, dass jeder hier sein Lieblingsland hat: Die einen stehen auf Dänemark, auf die Bretagne, die Toskana, die anderen auf Florida, Nicaragua, Grönland oder New York bzw. Sylt oder die Uckermark. Es ist ihre positive Utopie, ihr Traumland, wo sie nach Möglichkeit jeden Winkel kennen sowie die Sprache – und ganze Partys damit nerven können, weil sie da jede Arschfalte anführen und alles andere sie gleichgültig lässt.
All diese Regionen sind ein alternativer Ersatz für das (anfänglich jüdische) Weltbürgertum. Adolf Hitler hat das bereits auf den Punkt gebracht: „Anstatt ein kümmerlicher Weltbürger zu sein, beschloss ich, ein fanatischer Antisemit zu werden.“ Von Karl May lernte er dann, dass man sogar eine Armee in der afrikanischen Wüste befehligen kann, ohne jemals dort gewesen zu sein. Während die Hippies dann – u. a. aus Kerouacs Reisebericht „On the Road“ – die Lehre zogen, dass das Unterwegssein wichtiger ist als das Ziel. „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ (Thomas Brasch).
In den Siebzigerjahren hieß ihr Traumziel dennoch Indien. Es gab derartig viele Indienreisende – allein aus Westberlin –, dass das Urbankrankenhaus eine eigene Therapiegruppe für durchgeknallte Indienheimkehrer einrichtete. Mit dem Bürgerkrieg im Transit Afghanistan war damit jedoch erst einmal Schluss. Aber dann ging es etwas qualifizierter weiter. Und zwar mit den beiden Künstlerinnen Dorothee Wenner und Merle Kröger, die zunächst getrennt mehrere Filme und Bücher sowie Ausstellungen über Indien machten und nun zusammen die hier allgemein aufgebrochene Begeisterung für Indien – mindestens für seine Küche und Musik, die Bollywoodfilme und Massagetechniken – weiter befördern.
Im Übrigen schlug sich in Berlin noch jede neue Reiseziel-Konjunktur in nostalgische Kneipen nieder – heißen sie Pizzeria, Jugo-Grill, Kleiner Grieche, Chinarestaurant, Thai-Imbiss oder Guantánamo Libre. Neu ist nun das Multimediale, mit dem die Welt jetzt patchworkartig erfahren bzw. präsentiert wird, während zuvor der antifaschistische und antiimperialistische Widerstand unsere Weltkarte prägte – und wir uns z. B. jahrelang im Mekong-Delta besser auskannten als in Charlottenburg oder Moabit.