: „Siege sind viel weniger planbar als früher“, sagt Elk Franke
Die Leistung der deutschen Sportler in Athen sind o. k. – das Problem sind die überzogenen Erwartungen des Publikums
taz: Herr Franke, sind Sie zufrieden mit dem Abschneiden der deutschen Sportler bei den Olympischen Spielen?
Elk Franke: Ja, weil ich mich nicht der schlichten Bilanzierung von Platz 1 bis 3 bediene, sondern die Plätze 1 bis 6 beachte. Und dann ist vieles von dem, was jetzt als Enttäuschung aufgebaut wird, gar nicht mehr enttäuschend.
Aber Deutschland liegt im Medaillenspiegel ganz gut. Warum überwiegt dennoch die Unzufriedenheit?
Offenbar waren die Erwartungen zu hoch. Das liegt zum einen daran, dass Deutschland – etwa beim Schwimmen und beim Radsport – als Vize-Weltmeister, Weltmeister oder Ex-Olympiasieger startete. Hinzu kamen Ankündigungen der Athleten – etwa von Franziska van Almsick, die sagte „Ich habe eigentlich alles, nur bin ich niemals Olympiasiegerin geworden“. Damit hat sie sich natürlich selbst unglaublich unter Druck gesetzt. Außerdem gehen wir an Olympische Spiele häufig mit deutscher Gründlichkeit und Systematik heran, die wenig Spielraum lassen. Entsprechend werden mögliche Ergebnisse durch ein Vorlaufdenken in hohem Maße als risikofrei geplant. Wir Deutschen sind ja auch Weltmeister im Abschluss von Versicherungen.
Aber Olympiasiege sind nicht planbar?
Nein. Der moderne Hochleistungssport ist an einem Punkt angekommen, wo für einen Sieg sehr viele Variablen zusammenpassen müssen. Viele sportliche Erfolge sind nicht mehr so planbar wie noch vor einigen Jahren. Aufgrund gesteigerter Trainingsintensitäten in allen Ländern und unter besseren Dopingkontrollen wird es immer schwerer, Hochleistungen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erbringen. Somit ist das Risiko des Scheiterns prinzipiell größer.
Welche Rolle spielen die Medien bei dem Erwartungsdruck?
Die Medien verstärken den Prozess der Erwartungsplanung, und wenn es nicht klappt mit den Erfolgen, dann müssen Ursachen aufgedeckt werden und Personen, auch über den Athleten hinaus, zur Verantwortung gezogen werden. Am zweiten Tag der Spiele schon vom Scheitern zu sprechen, ist sicher eine Überschreitung der begleitenden Kommentarkompetenz der Medien gewesen. Daraus entsteht ein Klima, das im Grunde den sportlichen Wettbewerb seines Witzes beraubt, nämlich dass es letztlich immer um ein Wechselspiel zwischen Sieg und Niederlage im Sinne der Ergebnisoffenheit geht. Mit dem übertriebenen Planungsdenken wird die Chance verschenkt, im Sport auch Überraschungseffekte zu sehen.
Sie haben Züge der deutschen Mentalität angesprochen. Wie sehr ist Sport von Patriotismus geprägt?
Die modernen Olympischen Spiele gründen sich zum einen auf Internationalismus, wie er sich erstmals am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, und sind damit ein Vorläufer der Globalisierung. Zum anderen aber sind sie von nationalem Denken geprägt, wobei man zwischen Chauvinismus und Nationalbewusstsein unterscheiden muss – eine Differenzierung, die wir in Deutschland natürlich etwas sensibler beachten müssen als andere Länder. Je größer die Globalisierungsentwicklung wird, desto mehr Orientierung benötigt der Mensch. Das heißt, wir brauchen Fixpunkte, und diese Fixpunkte werden im Rahmen der üblichen Angebote der modernen Gesellschaft immer weniger möglich. Die klassische nationalistische Position, die im 19. Jahrhundert noch über Kriege festgemacht werden konnte, ist zum Glück relativiert worden. Der Sport erlaubt durch seinen Code Sieg/Niederlage eine klare Differenzierung. Sportliches Geschehen stellt eine inhaltsfreie Dramatik zur Verfügung, die in hohem Maße Identifizierung von Nichtbeteiligten innerhalb des Handlungsgeschehens möglich macht. Es findet ein Stellvertreter-Handeln statt, wobei der Handlungsablauf nicht gestört wird, wenn sich der nicht beteiligte Zuschauer mit dem Athleten identifiziert, er handelt für mich, für uns. Ein schönes Beispiel ist Chile, das nach dem Gewinn von zwei Goldmedaillen den letzten Montag zum Feiertag erklärt hat.
Warum feiern und leiden wir nicht so sehr mit bekannten Musikern oder Schauspielern?
Weil der Held in der Inszenierung eines musikalischen Stückes oder auf der Bühne immer eingebunden ist in eine Komposition oder ein Theaterstück. Für einen Außenstehenden wäre es dann nur schwer verstehbar, wenn sich jemand mit einem Schauspieler so identifiziert wie mit einem Sportler. Der Sport hat zwar alle Insignien der Dramaturgie, ist aber inhaltsfrei, das heißt der 100-Meter-Lauf oder ein Fußballspiel sind Ereignisse, wo man sich leicht in die Rolle der jeweiligen Akteure hineinversetzen kann.
Und deshalb ist die Enttäuschung so groß und die Kritik so laut?
Ja, wenn es mit der Medaille nicht klappt, kann man sich als Zuschauer zurücklehnen und sagen: „Na, die haben uns aber heute enttäuscht.“ Man selbst macht dann einfach die zweite Bierflasche auf, der Sportler jedoch hat dafür vier Jahre lang hart trainiert. Wird eine solche persönliche Niederlage dann noch mit Häme begleitet, verstärkt sich die Kluft zwischen gelebtem und erlittenem realem Hochleistungssport und einem selbstgefälligen Medienspektakel. Da verkommen Siege zu eingeplanten Selbstverständlichkeiten und Niederlagen zur persönlichen Dummheit der Athleten.
INTERVIEW: JUTTA HEESS