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Archiv-Artikel

Kanzler hetzt Aufgehetzte auf

Auch schärfste Personenkontrollen konnten Tumulte beim offiziellen SPD-Wahlkampfauftakt in Leipzig nicht verhindern. Schröder gibt zu: Für Sachsens Spitzenkandidaten Thomas Jurk macht es der stramme Agenda-Kurs „nicht einfacher“

AUS LEIPZIG MICHAEL BARTSCH

„Ich finde es großartig, dass wir in ein so schönes Gebäude ausweichen“, bemerkt sarkastisch ein ehemaliger Leipziger SPD-Landtagsabgeordneter, dem der Wahlkampf 2004 erspart bleibt. Das große Foyer in der Biocity stand zwar schon seit dem Frühjahr als Ort für den offiziellen Wahlkampfauftakt der SPD fest.

Dennoch wirkt der hermetische Raum wie eine Reaktion auf die Eierwerfer des Vormittags beim Kanzlerbesuch in Wittenberge. Plakatträger müssen ebenso draußen bleiben wie alle, die mit Trillerpfeifen oder Flugblättern erwischt werden. Dümmliche Eierverkäufer gegenüber liefern den Vorwand für diese Aussonderung.

Wer die flughafenähnlichen Personenkontrollen überstanden hat, muss sich drinnen immer noch als Besucher zweiter Klasse fühlen. Wie der Lettner einer mittelalterlichen Kirche trennt ein mit Kunstgebüsch und Kameras zugestelltes Podest das gewöhnliche Volk vom Allerheiligsten da vorn.

Dort, auf den etwa 100 Sitzplätzen, haben die zuverlässigsten Genossen aus ganz Sachsen Platz genommen. Eine Rundmail hatte sie dazu aufgefordert, schon eine Stunde vor Beginn einzutreffen, um das Feld nicht den Störern zu überlassen. Die aber lassen sich nicht verhindern. Die Sicherheit schwärmt aus. Einzelne, die doch eine Trillerpfeife einschmuggeln konnten, ein Flugblatt halten oder zu heftig brüllen, werden getatzt und abgeführt. „Damit auch ja alle einer Meinung sind“, bemerkt bissig ein kaum Volljähriger. Andere fühlen sich an die Friedensgebete 1989 erinnert, als gewisse unverkennbare Herren in ähnlicher Weise zugriffen.

In dieser heimeligen Atmosphäre muss Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee die Kurve hin zu einem möglichst netten Kanzlerempfang kriegen. „Wir sind hier mit unseren Sorgen, Ängsten und Nöten gekommen“, beginnt er verständnisvoll. Tiefensee bemüht das „Wir“-Gefühl beim Aufbau Ost, wobei eine schnelle Angleichung West nicht das Ziel sein könne. Er bekennt sich zu seiner Mitwirkung in der Hartz-Kommission und zu deren Ergebnissen, möchte aber „unnötige Härten abbauen“. Was ein Tiefensee auch sagt, es wird in Leipzig beklatscht.

Kanzler Schröder hingegen hat noch gar nichts gesagt, da brechen schon die Tumulte los. Rufe wie „Lügner“, „Halt den Mund“ und „Wir wollen Arbeit“ lassen sich heraushören. Der Kanzler nutzt seine akustische Überlegenheit zur Gegenattacke. Die Störer schadeten der demokratischen Kultur und auch denen, die kultiviert auf den Montagsdemos ihre Sorgen äußerten. Sie seien auch nur von der PDS und den Rechtsextremisten aufgehetzt, behauptet er. Von den Genannten ist freilich nichts zu entdecken. Es folgt die bekannte Agenda-Verteidigungsrede, die statt der geplanten 45 nur 15 Minuten lang ist. „Eine Revision der Gesetze ist nicht verantwortbar“, sagt er. „Ich weiß, dass es damit für Thomas Jurk nicht einfacher wird.“

Der so bedauerte sächsische Spitzenkandidat gibt sein Bestes, lobt kurz die Hartz-Zugeständnisse und schwenkt auf die Landesthemen ein, mit denen die SPD zu punkten hofft: Bildung, Kitas, Mittelstand. Als er redet, hat die Abwanderung der Enttäuschten längst eingesetzt. Wie hart der Wahlkampf ist und noch werden wird, zeigen Gesänge, Sprechchöre und Plakate wie „Danke, Herr Schröder, für die erneute Spaltung der Nation“ vor dem Gebäude.

Nichts Neues für die wackeren Sozialdemokraten, die sich noch an Wahlkampfstände trauen. Direktkandidatin Sibylle Bunse aus Döbeln berichtet stolz, ihr kleines rotes Wahlkampfauto sei noch nicht demoliert worden. Juso-Landesvorsitzender Martin Dulig will trotzig weitermachen, obwohl ihm „blanker Hass“ entgegenschlage.