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Archiv-Artikel

Der schnellste Indianer der Welt

Seit Sydney hat Dittmer bei Meisterschaften kein Rennen mehr über 1.000 Meter verloren„Natürlich spüre auch ich eine Belastung. Aber ich bin ja schon zweimal Olympiasieger“

VON FRANK KETTERER

Draußen auf der olympischen Regattastrecke von Schinias bringt die Morgensonne die Menschen auf den Tribünen schon zum Schwitzen, und kaum ein laues Lüftchen regt sich, das für ein wenig Linderung sorgen könnte. Der Meltemi, dieser gefürchtete Wind aus dem Norden, der Anfang voriger Woche noch so vehement geblasen und Wellen geschlagen hatte, macht gerade Pause. Der Kanute Andreas Dittmer ist froh über die Stille des Windes. Er hat ein bisschen Angst gehabt vor Meltemi, weil der ein Rennen, wenn er böse will, ziemlich durcheinander wirbeln kann.

„Sicherlich werden auch bei Wind und Wellen die Besten vorne sein, aber die Platzierungen könnten sich dann doch geringfügig verschieben“, hat der 32-Jährige vor seiner Abfahrt nach Athen gesagt. Der Erste könnte zum Beispiel auf Rang zwei geblasen werden, und das würde schon reichen, um Dittmers Ziel zunichte zu machen. Er ist nicht nach Athen gekommen, um Zweiter zu werden. Er will gewinnen. So wie in Sydney vor vier und in Atlanta vor acht Jahren. Er, der Canadierfahrer, „der schnellste Indianer der Welt“, wie er sich bisweilen nennt, will sein drittes Gold. Alles andere zählt einfach nicht. Wer zweimal Gold gewonnen hat, schindet sich nicht, um dann Silber zu verlieren.

Vor drei Wochen auf dem Liebenberger See, 35 Kilometer östlich von Berlin: Auch an diesem Julimorgen steht der Wind still über dem See, und die Sonne lächelt so eifrig, dass sich kein Wölkchen an den Himmel traut. Trainer Jürgen Lickfett ist früh schon hinausgefahren auf das Wasser, nun steht er da in seiner roten Nussschale, ein großer, braun gebrannter Mann, eine Hand hält das Steuer, die andere eine Stoppuhr. Dittmer kniet keine 200 Meter entfernt in seinem Canadier, und als er das Paddel ins Wasser sticht, drückt Lickfett den Knopf der Stoppuhr und beginnt abwechselnd zu zählen und auf die Uhr zu schauen. 150 Meter weiter ist der erste Sprinttest an diesem Vormittag vorbei, und Lickfett ruft seinem Schützling das Ergebnis zu: „39 Schläge, 31 Sekunden. Die Zeit ist gut, nä?“

Das ist keine Frage, die Zeit ist viel zu gut. Als Lickfett Sekunden und Paddelstiche in das kleine rote Notizbüchlein einträgt, nickt er zufrieden. „Alles im grünen Bereich“, brummt er. Kurz darauf legt Dittmer erneut los. Wieder 150 Meter, wieder 31 Sekunden, wieder 39 Paddelstiche. Und wieder nickt Lickfett zufrieden und sagt: „Alles läuft planmäßig.“

Das ist eine sehr beruhigende Feststellung. Für Lickfett und natürlich auch für Andreas Dittmer. Seit den Spielen in Sydney hat er bei großen Meisterschaften kein Rennen mehr über 1.000 Meter, seine Paradestrecke, verloren. Und wenn jetzt alles planmäßig verläuft, wie der Trainer gerade eben gesagt hat, dann kann Dittmer auch morgen Vormittag in Athen nicht verlieren.

Deshalb ist man ja in den Olympiastützpunkt nach Kienbaum gefahren, um dem 32-Jährigen beim Training zuzuschauen und ihn zu fragen: Herr Dittmer, sind Sie das sicherste Olympiagold der Deutschen?

Andreas Dittmer ist sehr vorsichtig, er sagt dazu Worte wie: „Ich weiß, dass ich der große Favorit bin. Ich weiß aber auch, dass ich irgendwann mal wieder ein Rennen verlieren werde.“ Trainer Lickfett sagt: „Der Hattrick wäre natürlich schön. Aber die Konkurrenten wollen auch gewinnen.“

Im Prinzip ist es aber so, dass die Konkurrenten nur darauf hoffen können, dass Andreas Dittmer morgen mit dem falschen Bein aus dem Bett steigt, ihm das Paddel bricht oder sein Boot leckschlägt. Sonst wird nichts zu machen sein, die Konkurrenten wissen das, auch die Vorläufe haben das gezeigt. „Das merkt man schon, dass die Respekt haben“, sagt Dittmer. „In unserer Sportart kommt man ohne Arbeit nicht aus.“

Kanurennsport gilt, was das Training angeht, als Schweinesportart – und Dittmer ist in der Szene als jener bekannt, der gegen sich selbst das härteste Schwein sein kann. Vor Olympia hat sich Dittmer vorgenommen, noch mehr zu trainieren – und natürlich hat er es durchgezogen. Bei der Sparkasse Neubrandenburg, wo der Betriebswirt sonst halbtags für die Vergabe von Krediten zuständig ist, hat er sich, wie schon vor Sydney, seit Februar freistellen lassen, seitdem lebt er für den Sport, was in der heißen Vorbereitungsphase zwischen 20 und 25 Stunden Training pro Woche heißt. „Es ist schön, wenn man sich voll auf eine Sache konzentrieren kann“, erzählt er.

Man sollte an dieser Stelle vielleicht erklären, dass es ein großes Kunststück ist für einen Sportler, der schon zweimal bei Olympia gewonnen hat und sechsmal bei Weltmeisterschaften, sich noch weiter zu steigern, er ist ja schon der Beste. Und doch ist genau das der Grund, warum Dittmer noch immer wie ein Indianer über Flüsse und Seen paddelt. „Im Prinzip habe ich doch schon 2000 in Sydney sportlich alles erreicht“, sagt Dittmer und blinzelt in die Sonne, „aber ich habe gesehen, dass noch Entwicklungsmöglichkeiten da sind, dass es noch weiter geht.“

Und deshalb hat er nach Sydney auch beschlossen, weiterzumachen mit der ganzen Schinderei, mindestens bis morgen. „Es sind zwar nur noch kleine Schritte, aber man kann sie sehen“, sagt er. Im Prinzip ist es das Streben eines nahezu Perfekten nach absoluter Perfektion. Und der Einzige, an dem sich Dittmer dabei noch orientieren kann, ist Dittmer selbst. Seine Trainingswerte hat er in ein Büchlein eingetragen, so wie man das von einem Bankangestellten erwarten darf. Wenn er nun einen Test fährt, braucht er nur sein Büchlein aufzuschlagen und darin nachzulesen, wie die Werte im letzten Jahr waren oder im Jahr davor, und schon kann er erkennen, dass er doch noch mal eine Schippe draufgepackt hat in puncto Kraft und Ausdauer. „Training ist Alltag und der Vergleich mit mir selbst“, sagt Dittmer. Wettkämpfe hingegen „sind Feiertage und der Kampf gegen die Konkurrenz“. Nur im Alltag ist er Niederlagen gewohnt. Dabei sind es natürlich nicht nur Ausdauer und Kraft, die Andreas Dittmer zum besten Canadierfahrer der Welt gemacht haben, es gehört noch etwas anderes dazu: Gefühl für Wasser und Boot.

Dittmer hat dieses Gefühl quasi geerbt, schon sein Vater war Kanute – und auch der Rest der Familie ist sportlich: Die Mutter betrieb Leichtathletik, Schwester Anja startete gestern im olympischen Triathlon. Majestätisch sieht es aus, wie er aufrecht in seinem Kanu kniet und das Paddel ins Wasser sticht, kraftvoll und elegant. Keiner in der Welt fährt mit einem so großflächigen Paddel und kann dadurch so viel Kraft ins Wasser umsetzen wie Dittmer. Und kaum einer fährt in einem so schmalen Boot und hat damit so wenig Wasserwiderstand. Ganze 32 Zentimeter misst Dittmers Canadier an der breitesten Stelle. „Das ist mehr eine Dachrinne als ein Boot“, sagt Dittmer lächelnd. Es braucht viel Gefühl, mit so einer Dachrinne Rennen fahren zu können.

Die Augen von Jürgen Lickfett bekommen einen Hauch von Stolz, wenn er vom Begleitboot sieht, mit welcher Eleganz sein Schützling den See durchsticht. Als Dittmer vor 13 Jahren zu Lickfett kam, war er ein Talent, viel mehr nicht. Jetzt ist er schon seit vier Jahren der Beste der Welt – und ungeschlagen. „Und trotzdem hat er sich noch mal gesteigert“, sagt Lickfett. „Er ist insgesamt, also in der Komplexität, noch mal besser geworden“, sagt Lickfett. „Seine Leistungsvoraussetzung hat sich verändert.“ Was dazu geführt hat, dass Dittmer das Rennen auf den ersten 150 Metern schneller angehen kann und nicht mehr auf seine Steherqualitäten auf den letzten 200 Metern vertrauen muss, so wie es bisher für ihn typisch war.

Zurück nach Athen, wohin ja auch andere Sportler als Favoriten gereist sind. Franziska van Almsick. Oder Marcel Hacker, der Favorit im Einer der Ruderer. Auch sie wollten gewinnen, auch sie haben vier Jahre hart trainiert – und sind gescheitert. An sich, an den Nerven, am Druck, woran auch immer. Andreas Dittmer sagt: „Natürlich ist auch bei mir Druck da, und natürlich spüre auch ich eine Belastung. Aber ich bin ja schon zweimal Olympiasieger.“ Es gibt keinen Grund, warum er es morgen nicht zum dritten Mal werden sollte.