In the long run we’re all dead

Ökonomen bevorzugen oft die Theorie, denn damit können sie sich wissenschaftlich profilieren. Ob ihre Thesen taugen, überprüfen sie selten. Zum Nachteil der BürgerInnen

Zum verletzten Gerechtigkeits-empfinden lässt sich „wissenschaftlich wenig sagen“

Kürzlich hat der wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium mit großer Mehrheit einen einheitlichen Steuersatz von 30 Prozent vorgeschlagen. Ein Freibetrag von 10.000 Euro soll die Belastung niedriger Einkommen mildern. Nur ein Beiratsmitglied stellt zutreffend fest, dass damit die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit „faktisch aufgegeben“ wird. Die Empfehlung kollidiert mit dem verbreiteten Gerechtigkeitsempfinden – und zeigt eine gravierende Änderung ökonomischen Denkens. Sie ist auf einige Tendenzen in der modernen Ökonomie zurückzuführen.

Angesichts solcher Empfehlungen lohnt es sich zu fragen, ob das, was hier als „gesichertes“ ökonomisches Wissen ausgegeben wird, wirklich als empirisch bewährt gelten kann. Schließlich ist der Mut, die eigenen theoretischen Ergebnisse für anwendbar zu halten, bei vielen Ökonomen nahezu unbegrenzt. Dabei spielen deren Grundüberzeugungen oft eine größere Rolle als das Forschungsergebnis.

Einige Fehlentwicklungen in der Ökonomie prägen ökonomisches Denken, ohne dass dies immer unmittelbar deutlich wird – und haben damit letztlich auch das Beiratsgutachten beeinflusst: Ein wesentliches Problem liegt zunächst in der häufig fehlenden empirischen Überprüfung theoretischer Aussagen. Dies erfordert schließlich Arbeit und Mühe. Und gerade junge Ökonomen können für ihre Karriere durch rein theoretische Publikationen in international angesehenen Journalen mehr erreichen. Auch das Beiratsgutachten verzichtet weitgehend auf empirische Belege für die unterstellten Wirkungszusammenhänge.

Es gibt eben nach wie vor unverdrossene Theoretiker, die eine empirische Überprüfung für unnötig halten, da sie ja die „richtigen“ Annahmen gemacht hätten. So wird etwa ökonomisches Verhalten häufig von der Vorstellung abgeleitet, dass Individuen ihren Nutzen, der ja nicht direkt beobachtbar ist, maximieren. Ähnlich problematisch sind oft Annahmen über Unternehmerverhalten und Produktionszusammenhänge. Im Ergebnis kommt es dann zu einer Überschätzung der Leistungsfähigkeit des Marktes. So haben viele in Ostdeutschland darauf vertraut, dass schon die Einführung der Marktwirtschaft das notwendige Wachstum bringen würde. Auch die Beiratsaussagen über die Wirkungen steuerlicher Maßnahmen beruhen teilweise auf solchen nicht überprüfbaren Annahmen.

Oft wird in diesem Zusammenhang auf eine wissenschaftliche Arbeitsteilung verwiesen. Der Theoretiker entwickle halt seine Theorie. Dem Empiriker stehe es ja frei, die Theorie zu widerlegen. Abgesehen davon, dass diese Arbeitsteilung nicht funktioniert, verkennt sie, dass empirische Befunde bei der Entwicklung einer Theorie helfen.

In der Theorie gibt es eine zunehmende Tendenz, explizit auf langfristige Gleichgewichte abzustellen und die Übergangsprozesse zu vernachlässigen. Ganz neu ist das nicht. Schon Keynes sagte: In the long run we’re all dead. Die Politik kann aber nicht von den Übergangsprozessen abstrahieren; sie muss wissen, wie lang sie dauern und wie sie aussehen. Die empirische Prüfung solch langfristiger Thesen ist schwierig.

Aber auch wenn die Notwendigkeit empirischer Fundierung grundsätzlich anerkannt wird, gibt es Umgehungsstrategien. Ein Beispiel ist die so genannte narrative Empirie, wie sie insbesondere in der spieltheoretisch arbeitenden Industrieökonomie zu finden ist.

Oft wird mit sehr einfachen und realitätsfernen Annahmen gearbeitet. Gesichtspunkte, die selbst nach dem gesunden Menschenverstand relevant wären, werden vernachlässigt. So wird in vielen Modellen mit der Annahme einer geschlossenen Volkswirtschaft ohne Außenhandel gearbeitet. Dadurch will man die Allgemeinheit der Theorie sicherstellen. Man möchte eindeutige Ergebnisse, die nicht nur in speziellen Situationen gelten. Es gehört aber zu den unverzichtbaren Aufgaben des Ökonomen, zu erforschen, ob ein Ergebnis parameterabhängig ist, also immer gilt oder nicht.

Der Wunsch nach Allgemeinheit der Theorie mit eindeutigem Ergebnis hat allerdings häufig einen anderen Grund. Angestrebt wird die Eleganz des Modells und seine allgemeine Lösbarkeit, die man aber angesichts moderner Simulationsverfahren gar nicht braucht. Im Wettbewerb der Wissenschaftler zählen derartige Gesichtspunkte wohl tatsächlich mehr als die konkrete Anwendbarkeit.

Viele Experten dachten, schon die Einführung der Markt-wirtschaft bringt im Osten auch Wachstum

Oft werden auch Annahmen über konkrete Zahlenwerte einzelner Parameter eines Modells gemacht, also etwa über die Stärke der Beziehung zwischen zwei Größen. Man spricht dann von Kalibrierung. Häufig wird nicht einmal die empirische Relevanz dieser Zahlen behauptet. Derartige Verfahren gibt es insbesondere in den RBC-Theorien, die Konjunkturzyklen real zu untersuchen vorgeben und die trotz solcher Zahlenspiele mit realitätsfernen Modellen arbeiten. Man kann sich nur wundern, wenn Ökonomen sich intensiv mit Modellen zur Konjunkturerklärung beschäftigen, in denen es unfreiwillige Arbeitslosigkeit gar nicht gibt. Dementsprechend scheitern RBC-Modelle in der Regel bei der empirischen Überprüfung.

Die Ökonometrie, die statistische Methoden mit der ökonomischen Theorie verbindet, hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Dessen ungeachtet sind ökonometrische Modelle außer Mode gekommen. Wesentlich dazu beigetragen hat ein Einwand des amerikanischen Ökonomen Lucas. Er hat den durchaus richtigen Hinweis gegeben, dass sich durch politische Maßnahmen Parameter ändern können und dass dies in den klassischen ökonometrischen Modellen nicht berücksichtigt sei.

Als konkrete Kritik an einzelnen Modellen ist dies berechtigt. Aufgabe der Wissenschaft muss es immer sein, Verhaltensänderungen zu beobachten und zu erklären. Diese Kritik wird aber gefährlich, wenn sie fundamentalistisch daherkommt und die generelle Unmöglichkeit empirischer Aussagen über die Zukunft behauptet. Hieraus lässt sich dann sehr schnell die Unmöglichkeit von Wirtschaftspolitik deduzieren, was ja gläubigen Paläo-Liberalen und Neoklassikern durchaus genehm ist.

Es gibt aber auch einen normativen Aspekt. Für Richard Musgrave, den Altmeister der modernen Finanzwissenschaft, galt es, bei der Analyse staatlicher Aktivität die Aspekte von Allokation, Distribution und Stabilisierung gleichermaßen zu betrachten und gegeneinander abzuwägen.

Für viele moderne Ökonomen gilt dies nicht mehr. Sie interessieren sich nur für die Allokation, also den möglichst effizienten Einsatz der Produktionsfaktoren. Demgegenüber halten sie die Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung etwa durch Konjunkturpolitik im Gefolge der Lucaskritik bestenfalls für eine Illusion. Die These, dass der Staat oder die Zentralbank auf Konjunkturpolitik verzichten solle, weil diese nur störe, kommt immer noch im wissenschaftlichen Gewand daher.

Dies spiegelt sich im Niedergang der Makroökonomie. Kreislaufgesichtspunkte werden vernachlässigt. So wird geraten, der Staat solle ohne Rücksicht auf die Konjunktur sparen. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage spielt keine Rolle.

Noch weniger beliebt bei modernen Ökonomen sind Fragen der Distribution, also der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Diese seien mit Werturteilen verbunden und deshalb eine Angelegenheit des Politikers. Zwischen der empirischen Ermittlung einer Verteilungssituation und ihrer Bewertung, bei der erst Werturteile ins Spiel kommen, wird nicht unterschieden. So ist es nicht überraschend, dass Steuersysteme allein unter allokativen Gesichtspunkten beurteilt werden. Die Ablehnung einer progressiven Einkommenssteuer durch den Beirat ist letztlich so begründet. Zum verletzten Gerechtigkeitsempfinden lässt sich „wissenschaftlich wenig sagen“, so der Beirat.

Oft spielen Grundüberzeugungen der Ökonomen eine größere Rolle als ihre Forschungsergebnisse

Verbunden damit verengen sich die zu erforschenden Phänomene. Das Fach „Sozialpolitik“ wird bundesweit in vielen ökonomischen Fakultäten aufgegeben, obwohl in diesem Bereich ein Drittel unseres Sozialprodukts ausgegeben wird.

Wie also kann man sich vor Aussagen schützen, welche Wissenschaftlichkeit beanspruchen, aber nicht leisten? Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie man der empirischen Arbeit in der Ökonomie wieder mehr Geltung verschafft. Nur eine realitätsnahe Ökonomie kann bei der Wirtschaftspolitik helfen.

HANS-JÜRGEN KRUPP