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Archiv-Artikel

Die Hintertür des Stabilitätspaktes gefunden

Deutschland und Frankreich wollen sich ihre gemeinsame Wirtschaftsoffensive von der Europäischen Investitionsbank finanzieren lassen

BERLIN taz ■ Berlin und Paris haben gestern eine wirtschafts- und finanzpolitische Breitseite in Richtung Brüssel abgefeuert. Im Rahmen der 81. deutsch-französischen Konsultation gaben der französische Staatspräsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder erstmals offiziell zu Protokoll, wie sie den europäischen Stabilitätspakt von Maastricht zu umgehen gedenken.

Nicht minder spektakulär ist der Vorstoß zur Industriepolitik: Berlin und Paris kritisieren die „exzessive Regulierung“ seitens der EU-Kommission, die den Unternehmen in beiden Staaten schade. Angegriffen wird die EU wegen ihrer Haltung zur Fusion von Konzernen, zum Emissionshandel und zur Chemiepolitik. Die derzeitigen Entscheidungen der Kommission bereiteten Sorge, hieß es gestern aus Verhandlungskreisen.

Der gemeinsame Nenner bei den verschiedenen Themen besteht weniger in einem kohärenten ordnungspolitischen Konzept, welches der Brüsseler Politik entgegengesetzt wäre, sondern in der Betonung der nationalen Interessen der beiden Staaten. Während Chirac und Schröder finanzpolitisch Eingriffe des Staates befürworten, die den Rahmen des Stabilitätspakts sprengen, plädieren sie andererseits für weniger Interventionen, um etwa die Chemiekonzerne vor schärferen Bestimmungen zu schützen. Beides steht im Widerspruch zur Politik der Europäischen Kommission.

Während die stagnierende Konjunktur in Frankreich wie Deutschland eigentlich eine Ausweitung staatlicher Ausgaben erfordert, verbietet das der europäische Stabilitätspakt mit seiner Schulden-Obergrenze von 3 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die beiden Regierungen haben einen eleganten Ausweg gefunden. Weil die nationalstaatlichen Haushaltsdefizite die 3-Prozent-Grenze mit jeweils rund 4 Prozent bereits massiv überschreiten, bringen Chirac und Schröder die Europäische Investitionsbank ins Spiel. Das in Luxemburg ansässige Institut soll ein paar Milliarden Euro frischer Kredite aufnehmen, dieses Geld zur Finanzierung von Infrastruktur und Forschungsprojekten in die Wirtschaft pumpen. Der Charme dabei: Die Regierungen demonstrieren ihren Wählern aktives politisches Handeln und nähren die Hoffnung auf neue Jobs, während andererseits die dafür benötigten Kredite in einem Schattenhaushalt versteckt werden. Denn die Bilanz der Europäischen Investitionsbank hat keine Auswirkungen auf die öffentlichen Defizite in Deutschland und Frankreich.

Konkret ausgegeben werden sollen die Mittel, deren genaue Höhe gestern nicht feststand, für teilweise längst bekannte Vorhaben wie die bessere Verknüpfung der Schienennetze des französischen Schnellzuges TGV und des deutschen ICE. Daneben legt Bundeskanzler Gerhard Schröder besonderen Wert auf eine Intensivierung der Forschungsförderung: Genannt wurden die Felder Telekommunikation, Energieproduktion, Gen- und Raumfahrttechnologie. Dabei ist klar, dass die segensreichen konjunkturellen Auswirkungen Jahre auf sich warten lassen werden. Eine Brücke für die Hochgeschwindigkeitszüge über den Rhein wird nicht von heute auf morgen gebaut – das deutsch-französische Investitionsprogramm dient eher der Verbesserung der langfristigen Wachstumsaussichten.

Gleichzeitig ist Chirac und Schröder daran gelegen, die Position ihrer Industrieunternehmen im internationalen Wettbewerb zu stärken. Verschiedene Vorhaben aus Brüssel betrachten sie als problematisch. Ganz oben auf der Liste steht die geplante europäische Chemie-Richtlinie, die Unternehmen verpflichten würde, tausende von bereits gebräuchlichen Chemikalien im Hinblick auf ihre Wirkungen für Umwelt und Gesundheit zu untersuchen. Dagegen wehrt sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BdI) genauso wie gegen den Emissionshandel, dem die Zukunft der Energiepolitik gehören soll. Die Industrie befürchtet unzumutbare Härten für die Firmen, die zu viel klimaschädliche Gase in die Atmosphäre ausstoßen. Und bei der von Brüssel ausgearbeiteten Richtlinie zur gegenseitigen Übernahme von Konzernen passt Schröder nicht, dass ausländische Unternehmen dann größeren Einfluss auf deutsche Firmen erlangen könnten, zum Beispiel auf VW.

In allen diesen Punkten wollen Chirac und Schröder die Europäische Kommission in die Schranken weisen. Damit dies besser funktioniert, wollen die beiden morgen noch einen Dritten mit ins Boot holen: den britischen Premier Tony Blair. HANNES KOCH