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Archiv-Artikel

East Enders in Sweatshop-Jobs

Arbeitssklaven, die im Akkord für einen Hungerlohn Blusen für große Markenketten nähen, stellt man sich in fernen Ländern vor. Doch es gibt sie auch viel näher, fast vor unserer Haustür. Zum Beispiel mitten in London, keinen Kilometer vom Börsenzentrum entfernt

VON ANITA BLASBERG

Der Mann, um den es hier geht, ringt mit seinem Faxgerät. Papier quillt heraus, endlos. Es ist Sonnabend, der Mann hockt in seinem dunklen Büro unter dem Schreibtisch und hat Geduld. Keine Sorge, sagt er, gleich haben wir es. Der Mann heißt Martin Smith, er besitzt ein Reihenhaus, hat eine Frau und zwei Kinder, und das Papier ist sein kleinstes Problem. Es gibt größere, denn er hat sich zu einem Kampf entschlossen. Einem Kampf für die Ordnung und für Menschen wie Betsy Jones.

Betsy Jones war lange arbeitslos. Sie hat zwei Kinder, kein Geld und keinen Mann. Doch es geht aufwärts, sagt sie, und dass sie ihren Job der Globalisierung verdanke. Sie sagt, sie arbeite in der New Economy.

Die New Economy von Betsy Jones, 43, befindet sich hinter einer Stahltür im dritten Stock eines schäbigen Mehrzweckbaus. Sie ist voll gestellt mit Sperrmüll, und ihre Fensterscheiben sind mit Pappe beklebt. Sie ist laut und kalt, und sie stinkt nach Pisse. Etwa fünfzehn dunkelhäutige Menschen sitzen hinter Nähmaschinen. Betsy Jones ist weiß, sitzt mitten in dem Rattern und dem Müll. Mit geschwollenen Fingern näht sie Knöpfe an Blusen, ein paar hundert pro Stunde. Die Blusen kosten im Laden fünfzig Pfund, drei Pfund die Stunde sind für Betsy Jones.

Mrs. Jones sitzt nicht in einer Freihandelszone auf den Philippinen, sondern im Herzen von London. Die Fabrik, in der die Britin arbeitet, ist eine von rund 350 improvisierten Textilfirmen, die im Immigrantenviertel East End unkontrolliert wuchern. Frühkapitalistische Arbeitsplätze, die durch die spätkapitalistische Globalisierung ihren Weg zurück in europäische Metropolen gefunden haben. An die fünftausend Menschen, vorwiegend aus Bangladesch, Indien, Afghanistan und Pakistan, arbeiten in diesen so genannten Sweatshops. „Sweatshop“, das heißt übersetzt so viel wie „Schwitzbude“, was ausdrücken soll, dass den Arbeitern der Lohn „abgeschwitzt“ wird. Unter katastrophalen Arbeitsbedingungen, meist für weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von vier Pfund, fand eine Studie der Londoner Gewerkschaft GMB im vergangenen Jahr heraus. Doch so richtig überrascht ist niemand: Die Sweatshops sind in der Stadt New Labours ein offenes Geheimnis. Die Politiker sagen, wir können nichts dagegen tun; die Textilketten sagen, das sind schwarze Schafe. Und bis vor kurzem sagten die Gewerkschaften, wir sind nicht zuständig. Bis Martin Smith kam und sich mit den Aktivisten von No Sweat verbündete.

Ich treffe Martin Smith an einem Montagmorgen auf der Whitechapel Road, der Hauptverkehrsader des East End. Martin Smith, 39, ist Funktionär von GMB. Er ist dort ein Außenseiter, denn er hat Ideale und eine Vision: Er möchte die Arbeiter in den Sweatshops organisieren. „Warum soll ich mich um Weihnachtsgelder und Autoversicherungen kümmern, wenn vor meiner Nase die elementarsten Arbeiterrechte mit Füßen getreten werden?“, fragt er. Martin Smith, etwas blass um die Nase und mit wenig Atem, will „Basisarbeit leisten“. Er redet langsam und sacht von Aufklärung und Ordnung, alles an ihm ist farblos, die Haare, die Haut und die Kleidung. Man könnte ihn unterschätzen, doch Martin Smith ist entschlossen. Ein Bürokrat mit Grundsätzen. Deshalb begibt er sich in seiner Freizeit in die diffuse Welt von „Banglatown“.

Es riecht nach fettigen Hühnchen und Abgasen, lärmende Straßenhändler stehen links und rechts neben dunklen Hallen, in deren unaufgeräumten Regalen sich Markenturnschuhe und Jeans für zwei Pfund türmen. Hier sieht man: dunkelhäutige Menschen, betrunkene Menschen, verschleierte Frauen, Frauen mit Burka.

Keinen Kilometer entfernt wachsen die glitzernden Glasfassaden des Bankenviertels in den Himmel. Was im East End wächst, sind vor allem Arbeitslosigkeit und Wut, Bäume aus leer stehenden Fabriken und die Zahl der Penner, die in ihnen schlafen. Jeder Zweite hier ist Ausländer, jeder Fünfte ohne Job. Das Quartier wird dominiert von verfallenden Sozialwohnungen, den Ruinen einer niedergegangenen Textilindustrie und der Hoffnungslosigkeit der ersten, zweiten und dritten Einwanderergeneration.

Martin Smith steigt vom Fahrrad, gibt mir umständlich die Hand und sagt: „Los geht’s!“ Los zu den Sweatshops, die so diskret sind, dass man sie kaum findet. Martin Smith deutet auf obere Stockwerke von heruntergekommenen Bürogebäuden, in Hinterhöfe und alte Lagerhallen. Britische Sweatshops sind mittelständische Betriebe mit zehn bis zwanzig Angestellten, sie tragen unauffällige Namen wie „Classic Garment“ oder „Basic Fashion“. Wenn überhaupt ein Schild angebracht ist.

Die Firmenschilder wechseln genauso häufig wie die Belegschaften, sagt Smith. Er kennt sich inzwischen aus, er ist oft hier und weiß, in welche Betriebe man einfach hineinkann. Wir betreten Gebäude über wacklige Metallstiegen, durch Hintereingänge und stinkende Treppenhäuser mit Toiletten ohne Türen und ohne fließendes Wasser. Von der Decke hängt loses Kabelgewirr, schwere Gerätschaften stehen herum, und Martin Smith notiert in seinen Block: keine Feuerlöscher, kein Notausgang, versperrte Fluchtwege.

Ein grauer Betonbau in der Adler Street 10–13. Wir stehen in einem dunklen Raum, voll gerümpelt mit Tapeziertischen, Bügelbrettern und Pappkartons, der Putz bröckelt von den Wänden, Baumwollpartikel flirren in der Luft. An Kleiderstangen hängen Lederjacken und -mäntel, in einer Ecke liegt ein Poloshirt mit dem Schriftzug „Tommy Hilfiger“, daneben eine Bluse, auf der „French Connection“ steht. Fünfzehn apathische Augenpaare starren uns an. Ein Mann kommt auf uns zu, wohl der Boss, und drängt uns auf den Flur.

„Was suchen Sie hier?“ – „Wir machen eine Umfrage für die Gewerkschaft GMB. Könnten wir Ihren Arbeitern wohl ein paar Fragen stellen?“ –„Nein, das geht nicht. Bei der Arbeit ist reden verboten.“ – „Und danach?“ – „Sie machen heute Überstunden.“ – „Vielleicht können Sie uns weiterhelfen …“ – „Okay, drei Minuten.“ – „Wie viel verdienen Ihre Angestellten pro Stunde?“ – „Zwischen vier und acht Pfund.“ – „Für welche Kunden produzieren Sie“? – „Das darf ich nicht verraten. Das hat mein Auftraggeber verboten. Und die Konkurrenz ist hart.“

Der Boss aus Bangladesch will uns seinen Namen nicht verraten. Er ist im East End geboren, aber beschäftigt nur Immigranten aus Bangladesch. „No Visitors“ steht auf der Tür, an der er lehnt. Er habe nichts zu verbergen, sagt er. Er halte sich an alle Gesetze.

Martin Smith lacht, als wir wieder auf der Straße sind. „Das sagen sie alle“, sagt er, „oft, weil sie die Gesetze gar nicht kennen.“ Smith, der seit Monaten akribisch Fakten über die Sweatshops sammelt, hat Fragebögen unter den Arbeitern verteilt. Die meisten von ihnen, hat er herausgefunden, arbeiten ohne Arbeitsvertrag, ohne jegliche soziale Absicherung, und wenn es die Auftragslage verlangt, Tag und Nacht. Viele werden in bar bezahlt, unter dem Mindestlohn und bei Krankheit überhaupt nicht. Und krank werden sie oft. Die meisten Fabriken, sagt Smith, seien im Sommer erstickend heiß und im Winter klirrend kalt: „Es gibt weder Ventilatoren noch Heizungen, die Feuergefahr ist groß, und die Sicherheitsvorkehrungen sind gering.“

Martin Smith ist ein Einzelkämpfer, er kämpft abends, wenn seine Gewerkschaftskollegen zu Hause sind. Er schickt den staatlichen Behörden detaillierte Schilderungen, Daten und Statistiken über die Sweatshops. Es ist ein Kampf gegen die Trägheit: In ganz England sind drei Beamte für die Einhaltung von Mindestlöhnen zuständig, und oft vergeht ein halbes Jahr, ehe sie eine Firma kontrollieren. „Bis dahin lassen die Bosse ihren Betrieb Pleite gehen“, sagt Smith, „und eröffnen tags darauf mit derselben Belegschaft einen neuen.“ Martin Smith beneidet die Deutschen um ihre Bürokratie und ihre Gesetze. Britische Gesetze, sagt er, machten es Sweatshop-Betreibern leicht. Für Arbeitsunfälle, selbst für solche mit tödlichem Ausgang, werden sie meist nicht haftbar gemacht. Die Kontrolleure von Sicherheits- und Gesundheitsstandards dürfen nur auf Veranlassung eines betroffenen Arbeiters aktiv werden, während Personen wie Martin Smith offiziell keinen Zutritt zu Privatfirmen haben.

Warum machen Sie diesen Job?“, fragen wir Betsy Jones später am Telefon. „Weil ich keine andere Wahl habe“, antwortet sie, und dass sie ihre Söhne großziehen müsse. Ihre Söhne gehen noch zur Schule und sollen es einmal besser haben als sie. Mrs. Jones ist eine kleine Frau mit krummem Rücken und kaputten Ohren, seit sie sich bei der Arbeit eine Mittelohrentzündung geholt hat. Ihre Krankheit auszukurieren konnte sie sich nicht leisten. Viele ihrer Kollegen haben Tuberkulose, doch beschweren tut sich hier niemand. Zu groß ist die Furcht, den Job zu verlieren.

Seitdem der Evening Standard mit Hilfe von Martin Smith eine Enthüllungsgeschichte über die Sweatshops brachte, sind die Bosse misstrauisch geworden und ihre Arbeiter ängstlich. Einige sagen, dass sie nicht mit Fremden reden dürfen, sie sagen in ziemlich gutem Englisch, dass sie kein Englisch können und dass sie nichts wissen: nicht, was sie da nähen, nicht, wohin es geliefert wird, und nicht, woher es kommt. Einige Bosse sperren, wenn sie nicht da sind, ihre Arbeiter ein: In einem Treppenhaus rattern Nähmaschinen hinter einer Tür, die von außen mit Vorhängeschlössern verrammelt ist. Der Boss aus Bangladesch holt seine Arbeiter morgens mit dem Minibus ab und fährt sie nach der Arbeit wieder heim. Moderne Sklavenhalter nennt Martin Smith die Sweatshop-Betreiber.

Am Abend zuvor war das Ritzy Cinema in Brixton voll von Menschen, die Dreadlocks tragen, Anti-Nike-Buttons und eine erwartungsvolle Miene. Sie sind Aktivisten. Auf dem Podium sitzen Menschen mit verbrauchten Gesichtern. Es sind Näher und Gewerkschafter, und sie erzählen in gebrochenem Englisch von ihrer Ausbeutung in China, Sri Lanka und Mexiko. Mick Duncan hat das alles organisiert. Duncan, 32, hat vor drei Jahren No Sweat gegründet, eine Organisation, die Sweatshops in der ganzen Welt bekämpfen will. Duncan macht das hauptberuflich. Er hat Medienwissenschaften studiert, organisiert seine Leute über das Internet, und er ist viel im Ausland unterwegs. „Im Vergleich zu den Arbeitern in chinesischen Sweatshops geht es den Arbeitern im East End zwar prächtig“, sagt er, „aber wenn wir nicht vor unserer eigenen Haustür anfangen – wo dann?“

Vor zwei Jahren bekam Mick Duncan einen Anruf von Martin Smith. „Wir sollten unsere Kräfte bündeln“, sagte Smith. Die Kräfte der trägen Gewerkschaft und die der ungeduldigen Globalisierungsaktivisten, die der konservativen Struktur und die der dezentralen Vernetzung. Man muss sich das ungefähr so vorstellen, als ob die IG Metall mit Attac fusioniert.

„Seattle hat uns zusammengeschweißt“, sagt Duncan, der sich Sozialist nennt, Gewerkschaftsmitglied ist und aussieht wie Robbie Williams mit roten Haaren und Sommersprossen. „Seattle“, sagt Smith, „hat junge Leute und Ideen in den Apparat gespült.“ Anders als die deutschen haben die englischen Gewerkschaften die Gunst der Stunde genutzt und die politisierte Generation mit offenen Armen aufgenommen. Nach dem Telefonat organisierten Smith und Duncan eine Menge von dem, was sie „visible stuff“ nennen: publicityträchtige Aktionen wie den Nike-Fun-Run oder Demos gegen große Namen wie Gap. Aktionen, die ein paar Tage lang in den Schlagzeilen waren und nichts änderten.

Irgendwann hatten sie genug vom „visible stuff“. Irgendwann, das war im August 2002, als sie sich entschlossen, in die Fabriken des East End zu gehen und zu kämpfen. „Nur die Arbeiter selbst können etwas ändern“, sagt Duncan, „nicht die Konsumenten und erst recht nicht die Konzerne, die tolle Presseerklärungen herausgeben.“ Duncan meint, er habe viel von den Gewerkschaftern in Entwicklungsländern gelernt. Dennoch war der Plan ehrgeizig und groß: Er bedeutete mühsame Basisarbeit – ohne Presse, ohne schnellen Erfolg und ohne Dank. Nicht die Medien, sondern die Arbeiter mussten überzeugt werden. Und die haben darauf nicht gewartet.

Betsy Jones ist eine Ausnahme in den Sweatshops. 70 bis 80 Prozent der Arbeiter, schätzt Martin Smith, sind männliche Muslime, Immigranten aus Krisengebieten wie Afghanistan oder Irak, die kaum Englisch sprechen und ihren Job über Landsleute aus der islamischen Gemeinde bekommen haben. Der Sweatshop ernährt ihre Familien, und nicht selten nähen ihre Frauen zu Hause für noch weniger Geld. Von so etwas wie Gewerkschaften haben viele noch nicht einmal gehört. Weiße Akademiker, die mit zerrissenen Jeans in ihre Welt kommen, um von Kündigungsschutz und Mindestlöhnen zu reden, sind ihnen suspekt.

Wie organisiert man misstrauische Arbeiter? Martin Smith holt tief Luft, dann beginnt er zu erzählen: davon, dass alles nicht so einfach und Geduld sehr wichtig sei; davon, dass sie zunächst aufklären müssten und Vertrauen gewinnen. Acht Aktivisten von No Sweat gehen regelmäßig in die Sweatshops, versuchen, mit den Arbeitern ins Gespräch zu kommen und Kontakte aufzubauen. Sie müssen sich hineinschleichen, wenn die Bosse weg sind, und dann müssen sie Mauern überwinden. Mauern des Misstrauens und des Schweigens. Redet ein Angestellter mit den Gewerkschaftern, riskiert er seinen Job. Wird er mit ihnen gesehen, riskiert er die Ächtung in der islamischen Gemeinde. „Und in den Fabriken“, sagt Smith, „haben die Wände Ohren.“

Erst fünf Telefonnummern haben sie von Leuten wie Betsy Jones, die ihre Ideen gut finden, und die meisten von ihnen haben inzwischen einen anderen Job. Smith und Duncan verteilen im Viertel Flugblätter, die über britisches Arbeitsrecht informieren, und laden zu den monatlichen Versammlungen ein – bisher ohne Erfolg. „Sie fügen sich in ihr Schicksal“, sagt Duncan, der meist einen Dolmetscher mitnimmt. „Die Arbeiter einer Fabrik stammen teilweise aus zehn verschiedenen Ländern“, sagt er. „Sie reden kaum miteinander und sind schwer zu motivieren.“ Außerdem seien sie oft völlig abhängig, da der Boss alles für sie regele, ihre Papiere einbehalte und sogar ihre Mieten überweise.

Aus Armut und Kriegen kommende Menschen haben viel Vertrauen und wenig Orientierung. Ihre Zuflucht ist die islamische Gemeinde, und in der sind die Sweatshop-Bosse die Mächtigen. Die Fabrikbetreiber sind Einwanderer der zweiten oder dritten Generation, und sie sind angesehene Mitglieder der Bengal Community, die das Viertel seit den Fünfzigerjahren dominiert. Sie tragen Sonnenbrillen und italienische Schuhe, fahren deutsche Autos und bezahlen die Renovierungsarbeiten an der East-London-Moschee aus der Portokasse. Wer sich mit ihnen anlegt, braucht entweder Macht oder Mut.

Deshalb, sagt Martin Smith, gehe es darum, Schlüsselfiguren zu gewinnen, Leute, deren Wort im Viertel etwas gilt. Einer, dessen Wort sehr viel gilt, ist Koordinator im islamischen Gemeindezentrum, und wir sind mit ihm in seinem Büro verabredet. Er möchte den Aktivisten helfen, will für Kontakte sorgen, mir Interviewpartner vermitteln. Er hat es sich wohl anders überlegt. Vielleicht möchte er lieber nicht in die Zeitung, möchte lieber kein Gerede. Heute und in den nächsten Tagen jedenfalls wird er nicht mehr kommen.

Das System der Abschottung funktioniert. Der Kampf von Martin Smith ist ein Kampf von David gegen Goliath. Das East End ist ein Paralleluniversum, an dessen unsichtbaren Mauern Eindringlinge abprallen. „Ich kann den Sweatshop-Bossen noch nicht einmal einen Vorwurf machen“, sagt Mick Duncan abends im Pub, „sie sind Aufsteiger, die früher selbst ausgebeutet wurden. Nun haben sie den Kapitalismus verstanden.“ Das System sei falsch, sagt er nach drei Bieren und dass der Preisdruck der Auftraggeber letztlich verantwortlich sei. Die Sweatshop-Bosse, sagt Martin Smith über seinem Mineralwasser, seien oft kleine Fische, die ohne Lohndumping und Abstriche bei den Sicherheitsstandards gar nicht überleben könnten.

Die Vorstände der großen Textilketten geben sich jedes Mal überrascht, wenn die Praktiken ihrer Zulieferer aufgedeckt werden. Phillip Green, Chef von Topshop, dem britischen Pendant zum schwedischen H&M, reagierte entsetzt, als der Evening Standard die Zustände in seiner Zulieferfirma Lily Clothing enthüllte: In einem überfüllten Raum ohne Notausgänge, Toiletten und Trinkwasser wurden Topshop-Blusen genäht – für zwei Pfund achtzig die Stunde. Greens Einkäuferin zog den Auftrag zurück, der Sweatshop schloss, und die Arbeiter standen auf der Straße. „Statt dem Zulieferer mehr zu zahlen und ordentliche Arbeitsbedingungen durchzusetzen, dürften Greens Subunternehmer den nächsten Sweatshop beauftragt haben“, sagt Smith. Und Duncan fügt hinzu: „Die Multis haben Ethikrichtlinien als PR-Gag und ziehen sich mit undurchsichtigen Fertigungsketten aus der Verantwortung.“

So recht möchte niemand Verantwortung übernehmen für das, was hinter East Ends verschlossenen Türen geschieht. Eine Etage über dem Sweatshop in der Adler Street befindet sich ein Grafikatelier, nebenan kicken Studenten auf einer Wiese zum Gedröhn eines Ghettoblasters, und in den Clubs um die Ecke feiern die Banker des nahen Börsenviertels ihre Afterwork-Partys. Die Ausbeutung, scheint es, geht keinen was an – auch nicht die Labour wählenden Mittelschichtnachbarn. „Hier im East End“, sagt Smith, „wohnen etwa hundert GMB-Mitglieder, und ich habe Mühe, auch nur zehn zu finden, die uns helfen wollen.“ Ein satter Haufen sei seine Gewerkschaft: Auch wenn sich der Apparat verjüngt habe, die Strukturen seien aus Beton. Die Gewerkschaften, sagt Smith, der einmal Wirtschaftsgeschichte studiert hat, Lafontaine toll und Blair zum Kotzen findet, hätten die Sweatshops lange als bloßes Einwanderungsproblem definiert. Die Labour-Partei, die im Stadtrat die Mehrheit hat, findet das Thema genauso unpopulär: Die Arbeitslosigkeit ist eh gigantisch – würden jetzt noch die fünftausend Sweatshop-Jobs wegfallen, würde das nicht nur Sozialhilfe, sondern auch Wählerstimmen kosten.

Es ist Sonnabend, Martin Smith sitzt in seinem dunklen Büro, und als er das Papier endlich gebändigt hat, breitet sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus: Das Fax ist von der Inland Revenue, der Behörde zur Einhaltung des Mindestlohns. „Lieber Mr. Smith“, schreiben sie, „vielen Dank für Ihre Angaben. Unsere Kontrollen ergaben eine Trefferquote von 33 Prozent.“ Ein paar Monate später kamen die ersten staatlich erzwungenen Lohnerhöhungen. Viele der betroffenen Fabriken meldeten daraufhin Konkurs an. Der Kampf von Martin Smith ist noch lange nicht vorbei.

ANITA BLASBERG, 26, lebt als Journalistin in Hamburg