: Zwischen allen Stühlen
Weil ihr Vater, der zunächst hitlertreue General Walther von Seydlitz, im Stalingrader Kessel zur Kapitulation aufrief, nahmen die Nazis seine Frau und die vier Töchter in Sippenhaft. Eine von ihnen, Ingrid von Seydlitz, wird heute in Hamburg über ihre Kindheit und Jugend als „Verräterkind“ berichten
VON PETRA SCHELLEN
Ingrid von Seydlitz ist eine freundliche, fröhliche Frau. Die 75-Jährige hat gern Gesellschaft, sie lacht gern und viel, wenn sie erzählt, auch wenn ihre Geschichte an trübe Stellen rührt. Und davon gibt es in ihrer Vergangenheit einige. Denn ihr Vater, Offizier Walter von Seydlitz, zunächst williger Hitler-Diener und hoch dekoriert, erkannte erst 1942, als Eingekesselter von Stalingrad, die verbrecherische Dimension des faschistischen Krieges. Er rief die deutschen Soldaten – gegen den Befehl Hitlers – zur Kapitulation auf. 1943 gründete er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft den Bund deutscher Offiziere, die der Sowjetunion Kooperationen anboten und im Nachkriegsdeutschland eine Demokratie aufbauen wollten. Dabei hatte von Seydlitz den Kessel ursprünglich öffnen sollen. Es gelang ihm auch zum Teil – bis sich die sowjetische Zange um 250.000 Wehrmachtssoldaten schloss.
Die Sowjets schienen von Seydlitz’ Kooperationsangebot zunächst zu goutieren, zögerten aber, da noch unklar war, ob es einen Waffenstillstand mit Deutschland oder einen engeren Zusammenhalt mit den Alliierten geben würde. Erst nach der Konferenz von Teheran, im Dezember 1943, auf der sich die Alliierten enger zusammenschlossen, verwarf man Seydlitz’ Pläne. 1950 machte ihm die Sowjetunion den Prozess, verurteilte ihn zum Tode, begnadigte ihn dann zu 25 Jahren Haft. In Deutschland verurteilten ihn die Nazis derweil wegen Verrats zum Tode.
Entwicklungen, die das zivile Leben seiner Frau und seiner vier Töchter im niedersächsischen Verden stark prägten. Dabei schienen die Nazis die Aktivitäten des Bundes Deutscher Offiziere zunächst nicht publik machen zu wollen, um Nachahmer zu vermeiden. Nach dem Hitler-Attentat Stauffenbergs am 20. Juli 1944 aber „muss Hitler ausgerastet sein und alle Widerständler in einen Topf geworfen haben“, sagt Ingrid von Seydlitz heute. Denn wenige Tage nach dem Attentat – am 3. August 1944 – wurden ihre Mutter und die beiden älteren Schwestern ins Bremer Gestapo-Gefängnis gebracht und wie die Stauffenberg-Angehörigen in Sippenhaft genommen. „Ich war damals im einem Erholungsheim und wusste als Zehnjährige nicht viel. Nur, dass ich meinen Vater vermisste, mehr als meine Mutter, die nie hinter den Widerstands-Aktivitäten meines Vaters stand. Man muss sie wohl als Mitläuferin bezeichnen.“
Nur, dass ihr Vater Offizier war, hat Ingrid von Seydlitz nie so recht gefallen, sagt sie. „Aber er kam aus einer nicht wohlhabenden, wenn auch adligen Familie, und die Offiziersausbildung war die billigste. Als Kriegstreiber habe ich ihn, obwohl er in beiden Weltkriegen kämpfte, aber nie empfunden. Und ein Faschist war er sicherlich nicht.“
Vielleicht habe der Vater – aber das weiß die Tochter nicht genau – auch aus Pragmatismus den Nazi-Wahn mitgemacht. „Er hatte vier Kinder zu versorgen und keinen anderen Beruf. Eins weiß ich aber sicher: Es gehörte zu seinem Ethos als Soldat, als unsinnig empfundene Befehle zu kritisieren. Das hat er in Stalingrad dann ja auch getan. Schon vorher hatte er übrigens die Kriegsführung Hitlers oft kritisiert. Er hielt ihn nicht für einen fähigen Kriegsherrn“, sagt Ingrid von Seydlitz, die seit langem in Hamburg wohnt.
Trotzdem – und hier ist eins der schwarzen Löcher, das auch der Tochter nach dem Tod des Vaters blieb – weiß sie nicht, warum er Hitler erst in Stalingrad als Verbrecher identifizierte. Und wie weit eine „Erkenntnis“ in subjektiver Notlage als ethisch gelten kann – eine weitere ungeklärte Frage, das räumt auch Ingrid von Seydlitz ein. Sehr intensiv hätten sie auch nach des Vaters Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1955 nie über diese Fragen reden können. „Meine Mutter wollte nicht, dass er mit uns Kindern darüber sprach“, sagt Ingrid von Seydlitz. Sie sei aber sicher, dass der Vater eigentlich habe reden wollen. Denn mit seiner Entscheidung für den Widerstand habe er ja das Leben seiner Familie aufs Spiel gesetzt, „und das hat ihn sein Leben lang umgetrieben“.
Doch zunächst war da nach der Rückkehr Walter von Seylitz’ ins kleine Verden an der Aller die Sache mit dem „Verrat“. „Verräter go home“ habe da zu seiner Begrüßung an der Brücke gestanden, erzählt die 75-jährige Tochter. „Man muss sich das mal vorstellen – zehn Jahre nach Kriegsende!“ Sie lacht, aber fröhlich wirkt sie nicht. Vielleicht will sie sich ein bisschen schützen mit diesem Lachen. „Er wurde von den Verdenern komplett ausgegrenzt“, sagt sie. „Auch von jenen, die mit ihm beim Militär gewesen waren. Vielleicht hatten die ein schlechtes Gewissen.“ Und dass Walther von Seydlitz das Leben seiner Angehörigen riskiert hatte – die Tochter hat ihm das „nie übel genommen. Ich hatte immer das Gefühl, dass er das Richtige getan hatte“.
Trotzdem hat sich Ingrid von Seydlitz lange als „Verräterkind“ empfunden – einfach deshalb, weil die Nachkriegsgesellschaft das größtenteils so sah. Damit meint sie nicht das Nazi-Kinderheim in Bad Sachsa, in dem sie vom Sommer 1944 bis Januar 1945 mit ihrer kleinen Schwester und den Kindern der Attentäter des 20. Juli lebte. „Dort sollten wir eigentlich umerzogen und in Nazi-Familien vermittelt werden“, sagt von Seydlitz. „Aber dann wurden die Kriegswirren so stark, dass man uns uns selbst überließ.“ Eine wenig markante Zeit. Und das Verräter-Stigma, das hätten eher die Nachkriegs-Medien zelebriert, die über Walther von Seydlitz herfielen – besonders, als er äußerte, dass er den Kommunismus nicht schätze, die Russen aber sehr wohl.
Auch das Verdener Sozialamt hielt sich in den Nachkriegsjahren an die Nazi-Urteile, die Seydlitz als Verräter einstuften, und verweigerte der fünfköpfigen Familie jede finanzielle Unterstützung. „Erst nach seiner Rückkehr 1955 wurde das Urteil auf sein Betreiben hin aufgehoben. Dann hat er seine volle Pension bekommen“, sagt die Tochter.
Doch das Problem reicht noch weiter, denn von Seydlitz saß zwischen allen Stühlen: Die Kinder des Kreises um Stauffenberg begreifen ihren Vater bis heute nicht als „echten Widerständler“. „Für sie zählte der Widerstand eines Kriegsgefangenen nicht, weil der ja nicht sein Leben riskierte“, sagt Ingrid von Seydlitz. „Deshalb sind wir nie zu den Treffen der Hinterbliebenen der Attentäter des 20. Juli eingeladen worden. Und selbst bei der Neueröffnung der Ausstellung der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendler-Block hat ein Stauffenberg-Sohn meinen Vater im Fernsehen nochmals verunglimpft.“
Etwas mehr Differenzierung hätte sie sich schon gewünscht. Natürlich weiß sie, dass es es problematisch ist, was der Vater tat. Wie weit es nötig war – zumal das Risiko der Sippenhaft bestand – ist strittig. Er hätte ja schweigen können. Mit diesen Dingen sei ihr Vater schwer fertig geworden, sagt sie. Er kam 1955, durch lange Einzelhaft zermürbt, nervlich zerrüttet zurück. Er regenerierte sich zwar. Ob er die Entscheidungen von damals aber noch goutierte – Ingrid von Seydlitz hat es nicht herausgefunden.
Ingrid von Seydlitz spricht heute um 20 Uhr im Hamburger Kultwerk West über ihre Jugend als „Verräterkind“