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Archiv-Artikel

Das Phänomen der Paddel

Ein Ruck zuckt durch das Boot. Und im methusaleminösen Alter von 42 Jahren, 6 Monaten und 2 Tagen holt die Kanutin Birgit Fischer ihr achtes Olympiagold – und will womöglich weitermachen

AUS SCHINIAS FRANK KETTERER

Erfahrung ist ein wertvolles Gut, und als die letzten Meter angebrochen waren auf dem See Schinias, kramte Birgit Fischer alles hervor, was sie davon in ihrer langen Karriere gesammelt hat. „150 Meter vor dem Ziel habe ich bemerkt, dass die Ungarinnen vorne liegen“, erzählte Fischer später von diesem Moment, aber anstatt wegen des Rückstands und der drohenden Niederlage in wilde Panik zu verfallen, blieb sie ganz ruhig und erinnerte sich, wie das beim letzten Mal war als sie mit dem deutschen Kanu-Vierer ein Finale bestritt. „Auch in Sydney waren die Ungarinnen ja lange vorne – und wir haben sie noch geholt.“

Und genauso tat sie es nun vier Jahre später wieder. „Ich habe gezuckt, und die anderen haben mitgezuckt“, erzählt die Schlagfrau vom entscheidenden Ruck, den das Boot durchfuhr. Ein paar Meter später war das olympische Rennen vorbei, und die Spitze des deutschen Boots hatte um Haaresbreite als Erstes die Ziellinie überquert.

Auch beim Jubel half Fischers Erfahrung weiter: Während die Mitinsassinnen Maike Nollen, Katrin Wagner und Carolin Leonhardt reglos und mit bangem Blick Richtung Ergebnistafel starrten, reckte Birgit Fischer jubelnd die Arme in die Luft. „Dass wir vorne waren, habe ich erst gemerkt, als Birgit die Hände hochgerissen hat“, erzählte nach dem Rennen Maike Nollen. Auch für Carolin Leonhardt brachte erst dies Gewissheit über den Goldgewinn. „Ich habe gar nichts gesehen, sondern bin nur so schnell gepaddelt, wie es ging“, berichtete sie. Nur Fischer hatte gleich erkannt, dass alle vier zusammen 19 Hundertstelsekunden vor Weltmeister Ungarn gelandet waren. „Ich habe es sofort gewusst“, sagte Fischer. Kurz darauf schritten die vier Damen zur Siegerehrung und ließen sich Gold um den Hals hängen – und auch das eine oder andere Tränchen über die Wangen laufen.

Es ist dies ganz bestimmt eine der wundersamsten Geschichten, die bei diesen Spielen in Athen geschrieben werden können: Wie Birgit Fischer, mittlerweile 42 Jahre alt, im November vergangenen Jahres beschließt, wieder ins Boot zu steigen nach vierjähriger Pause – und wie sie knapp zehn Monate später schon wieder olympisches Gold gewinnt. Es waren ihre sechsten Olympischen Spiele – und ihr achter Olympiasieg, kein deutscher Sportler kann eine solch große Bilanz aufweisen und so viel Erfolg, von den 27 Weltmeistertiteln ganz zu schweigen.

Und welche Dimension dieser bisher letzte Sieg tatsächlich hat, erkennt man am besten, wenn man sich ein bisschen im deutschen Boot umsieht und dabei auf Carolin Leonhardt stößt. Leonhardt ist 19, damit gerade mal ein Jahr älter als der Sohn von Birgit Fischer, und sie sagt: „Als ich B-Schülerin war, habe ich immer von ihr gehört, der Weltmeisterin und Olympiasiegerin. Sie war schon damals mein Vorbild.“ Und jetzt, knapp zehn Jahre später, darf Carolin Leonhardt selbst bei Olympia paddeln – und ihr großes Vorbild sitzt immer noch im Boot. Heute starten die beiden zudem im Zweier.

Manchmal kokettiert Birgit Fischer damit, dass sie mit und gegen „Mädchen fährt, die meine Kinder sein könnten“. Den Mädchen macht das nichts aus. „Den Altersunterschied merkt man eigentlich gar nicht“, sagt Leonhardt. „Auch beim Paddeln denkt man eigentlich, sie wäre jünger. Sie hat es einfach im Gefühl. Sie ist ein Phänomen, eine Klasse für sich.“ Und den Rest des Teams scheint es zu beflügeln, dass da jetzt wieder ein lebendes Denkmal mit im Boot sitzt und den Schlag vorgibt, seit Sydney hatte der Vierer jedenfalls nicht mehr gewonnen. „Auf Birgit kann man sich in jedem Fall verlassen“, sagt Maike Nollen, die in der Zeit ohne Fischer die Schlagfrau geben musste und die jetzt findet: „Mit ihr kann ich mich einfach besser auf meine eigene Sache konzentrieren. Ich muss ja nur hinter ihr her paddeln.“ Auch auf Carolin Leonhardt wirkt die Rückkehr der alten Dame beruhigend: „Birgit weiß immer, was sie tut, und gibt uns sehr viel Sicherheit.“

Dabei ist es nicht so, dass Birgit Fischer nur den Schlag, sondern auch den Ton angibt. Ein bisschen ist sie, so könnte man sagen, die Mutter der paddelnden Kompanie. Und man kann das nicht nur bei der Siegerehrung und der Pressekonferenz sehen. Fischer weist dem Rest der Mannschaft den Weg, sie gibt die Richtung an, nicht nur auf dem Wasser. Sie hat ja auch schon so viel erlebt und so viel gewonnen.

Aber wie geht es denn nun weiter mit Birgit Fischer und dem Boot, nach Athen, nach ihrem achten Gold. Dass sie sich nicht ein Dreivierteljahr gequält hat, um gleich danach wieder aufzuhören, hat Birgit Fischer schon vor dem Rennen angekündigt. Und eine leise Ahnung, wie sie sich das vorstellt, bekommt man, wenn die 42-Jährige beschreiben soll, was dieses, ihr achtes Olympiagold für sie bedeutet. „Man muss ja eigentlich davon ausgehen, dass dies die letzte Medaille ist. Und die letzte Medaille ist ja immer etwas Besonderes“, hat sie gesagt. Was einem Reporter allerdings nicht genug war. „Ist es denn wirklich die letzte?“, wollte er wissen. Birgit Fischer hat bei dieser Frage nur gelächelt. Dann hat sie gesagt: „Das weiß ich doch auch nicht!“