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Archiv-Artikel

Seebären auf High Heels

„Frauen, Freaks und Sensationen“: Mit ihrem Gauklerprogramm „The Rock ’n’ Roll Freak Burlesque Circus“ kehren The Teaserettes im Roadrunners zu den Anfängen der Unterhaltungsindustrie zurück

VON MARLENE HALSER

Eine Melodie kehrt an diesem Abend immer wieder: der „Einzug der Gladiatoren“ des tschechischen Komponisten und Kapellmeisters Julius Fučík, besser bekannt als der „Zirkusmarsch“. Schon als Sandy Beach in rot-schwarz gestreiftem Frack und schwarzem Tüllröckchen vors Publikum tritt, um die Show zu eröffnen, trällert sie die musikalische Chiffre jeder Zirkusshow ins Mikrofon. Dann sagt sie: „Kommen Sie näher, meine Damen und Herren, denn gleich kann unsere Show beginnen. Es erwarten Sie Frauen, Freaks und Sensationen.“ Trommelwirbel. Tusch. Und damit ist es passiert, die unausweichlichen Assoziationen von Rummel und Revue stellen sich ein, und aus dem Roadrunners Club – einer Rockabilly-Bar in Prenzlauer Berg – ist eine Jahrmarktbühne geworden.

Was die nächsten zwei Stunden unter dem Titel „The Rock ’n’ Roll Freak Burlesque Circus“ folgt, ist eine Hommage an Zeiten, in denen es weder Fernsehen noch fest etablierte Volkstheater gab, eine Hommage an den Wanderzirkus und das Kuriositätenkabinett – und damit an die Ursprünge der modernen Unterhaltungsindustrie. Damals erfreute sich der dritte Stand auf dem Marktplatz an einer bunten Traumwelt und erschauerte vor Absonderlichem, dargeboten von fahrenden Schaustellern und Gauklern in hastig zusammengezimmerten Bretterbuden. Erst im Vaudeville des späten 19. Jahrhunderts wurden diese Darbietungen zur Massenunterhaltung in großen Revuen zusammengefasst. Dass sich nun im Roadrunners Club auch ein Kamerateam von RTL2 durch das dicht gedrängte Publikum zwängt, schließt den Kreis vom Damals zum Heute.

Statt des fahrenden Gesindes von einst gaukeln an diesem Abend die Teaserettes. Die sind Deutschlands älteste New-Burlesque-Gruppe, die mit der Kunst des erotischen Showtanzes seit gut drei Jahren Kleinkunstbühnen in ganz Deutschland bespielt. Wie beim ursprünglichen Burlesque der 1930er- und 40er-Jahre bleiben auch beim New Burlesque die Rüschenhöschen an. „Wir sind keine Frauchen, die sich ausziehen, um Männer aufzugeilen“, erklärt Sandy, Mastermind der Teaserettes und im wahren Leben Schauspielerin. „Was wir heute auf der Bühne präsentieren, sind starke Frauencharaktere, die sich selbst sexy finden und sich gerne vor anderen zeigen.“ Frauen also, die zwar tätowiert sind wie alte Seebären, sich aber dennoch gerne als Pin-up-Girls in Szene setzen. Auch auf der Bühne wird dieser Widerspruch nicht aufgelöst. Nach Kätzchen im Leopardenanzug und mit Plüschöhrchen im Haar, die auf allen vieren Milch aus kleinen Schälchen lecken, stolpert eine betrunkene Matrosin auf High Heels über die Bühne und entledigt sich dabei ihrer Kleider. Egal wie zutraulich oder bärbeißig sich die Damen in den einzelnen Nummern gebärden, am Ende des Songs steht jede in Unterwäsche da und wackelt mit den Brüsten im Takt. Das Amüsante der Nummern entsteht aus Banalität und Absonderlichkeit zugleich.

Seit ihrem ersten Auftritt vor gut drei Jahren haben sich die Shows der Teaserettes gewandelt. Anfangs bestand das Repertoire der Damen ausschließlich aus einigen frivol-erotischen Nummern. Mit den neuen Comedy- und Akrobatikdarbietungen ist das Programm zu einer abgedrehten, abendfüllenden Showveranstaltung geworden: Coco Clowness, mit weiß getünchtem Gesicht und roter Baskenmütze, liebkost als verliebter Pantomimenclown einen wackligen Kleiderständer. El Grande springt im schlabberigen Hundekostüm lieber die Menschen im Publikum an als durch die Reifen seiner Herrin. Und die beiden tätowierten und gepiercten Jungs von Crimson Carnival pinnen sich Stofffetzen und brennende Geburtstagskerzen mit Nadeln an Brust und Armen fest, bis blutige Rinnsale aus den Wunden sickern. Als Höhepunkt der Nummer werden zuvor festgetackerte Luftballons auf dem Rücken des Partners mit einem gezielten Dartpfeilwurf zum Platzen gebracht – nichts für zartbesaitete Gemüter. Selbst die internationalen Stars des New Burlesque, die dem Genre allmählich den Weg in den Mainstream weisen, sind an diesem Abend in der Roadrunners Bar dabei – wenn auch nur als Persiflage. Statt Dita von Teese, die sich als Pin-up-Girl im Champagnerglas rekelt, lässt Dieter vom Tresen in weißer Feinrippunterwäsche die Hüften kreisen.

Heute wie damals erfüllt der Freak auf der Bühne eine Funktion: Er bringt Tabus, die sich unter der zivilisierten Oberfläche verstecken, ans Licht. „Uns ist wichtig, zu zeigen, dass es neben den Plastikmenschen, die einem ständig als Norm präsentiert werden, auch noch etwas anderes gibt“, erklärt Sandy. Damit spricht sie vor allem jene an, die sich selbst als Außenstehende der Gesellschaft begreifen. „In dem Circus der Freaks kam ich mir teilweise völlig normal vor“, schreibt eine Dragqueen nach der Show in ihrem Blog.