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Archiv-Artikel

Spielbälle, in denen man leben soll

Von Krisenschlaufen, Plus-Effekten und Abwärtsspiralen: Während weltweit Megacitys ins Uferlose boomen, verlieren andere Städte laufend Einwohner. Diese Schrumpfstädte werfen Probleme auf, die zu lösen eine Kernaufgabe der kommenden 30 Jahre sein wird zugunsten zukunftsfähiger Lebensstile

Längst herrschtein globalisierter Wettbewerb unter den Kommunen

von DANIEL DAHM

Schon Anfang der 1990er-Jahre, als sich die Aufmerksamkeit des medialen und populärwissenschaftlichen Mainstreams noch konsequent auf die boomenden Global-Citys konzentrierte, war es klar, dass sich das grenzenlose Wachstum der Städte als alleiniges Szenario nicht würde halten können. Woher sollten schließlich die ganzen Stadtbewohner kommen? Und wie sollte dieses quantitative Wachstum qualitativ gewährleistet werden? Wie sollte überhaupt noch ein sozialer Status quo aufrechterhalten werden bei leeren Stadtkassen und der Desertation von Wirtschaftsunternehmen aus ihrer sozialen Verantwortung?

Schon in den 1990ern stand der Landflucht eine Stadtflucht gegenüber. In den so genannten Entwicklungsländern konnten die Städte die Versorgungsfunktionen für die Massen an Glückssuchern aus den landwirtschaftlich geprägten Regionen immer weniger erfüllen. Die Not und neue Wohlstandswünsche trieben die Menschen zu Scharen in die Städte – und die städtischen Lebensbedingungen trieben die Bessergestellten in Scharen wieder aus ihnen heraus. Derweil verödeten Klein- und Mittelstädte, Dörfer sowieso.

Und in den alten Industrieländern und den aufholenden Transformationsländern des ehemaligen Ostblocks? Hier sitzen viele derer, die glaubten (und merkwürdigerweise großenteils immer noch glauben), dass sie automatisch die Gewinner der globalisierten Marktwirtschaft sein könnten. Großer Trugschluss. Der internationale Wettbewerb um die Produktionsstandorte bündelt sich in den schon entwickelten städtischen Räumen. Und das Faktum, dass der Erwerbsarbeitsgesellschaft der ökonomische Boden wegbricht, treibt die Städte immer mehr in die finanzielle und politische Handlungsunfähigkeit. Sie sind immer weniger gestaltende Akteure des Marktes und der internationalen Kooperationen als vielmehr Spielbälle ökonomischer Interessen, die sich gegenseitig ins Aus befördern.

Die Ansprüche an die Städte als Lebensräume wie als Wirtschaftsstandorte sind hoch. Wissens- und Kulturmetropolen sollen sie sein, hohe Produktivität und Innovationskraft sind gefragt, eine stabile soziale Infrastruktur sollen sie bieten und wenig kosten. Heute gehören räumliche Polarisierungen durch demografischen, wirtschaftlichen wie sozialen Wandel zu den wichtigsten Herausforderungen und Konflikten in den Städten. Soziale Spaltungen durch die Öffnung der (Lohnkosten-)Schere zwischen wohlhabender Bevölkerung und der immer größeren Zahl derer, die an der Armutsgrenze leben, stellen eine immer größer werdende Gefahr für städtische Funktionsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit dar, besonders da, wo dieser Konflikt gepaart mit einem geschwächten Finanzhaushalt auftritt – und dies ist mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme.

Die Folge sind zumeist erst räumliche Konzentrationen von sozialen Konfliktpotenzialen, die zu einer langsam, aber stetig schneller werdenden Abwärtsspirale ganzer Stadtteile führen. Die direkte Verschlechterung der Standortattraktivität wirkt negativ rückkoppelnd, sodass ganze Stadtteile als Lebensorte „verwahrlosen“. So schließt sich die „Krisenschlaufe“. Die Städte verengen ihr Selbstverständnis zunehmend auf die marktlichen Funktionen.

Die Zivilgesellschaft wird nach und nach als Ausgleichsfaktor marktökonomischer Folgekosten und staatlicher Einsparungen missbraucht. Die Menschen der Stadt sollen selbst leisten, was der „Markt“ und die Kommunen im globalen Wettbewerb nicht mehr schaffen. Die zivilgesellschaftlichen Kräfte werden in der Gewährleistung der alltäglichen Daseinsgrundfunktionen und -bedürfnisse zur Sicherung des Status quo des Wohlfahrtsstaats aufgezehrt, und so können kaum „Plus-Effekte“ aus bürgerschaftlichem Engagement in die Gesellschaft und die Volkswirtschaft zurückfließen. Anstelle eines kooperativen Miteinanders marktlicher, staatlicher und ziviler Akteure werden sie mit dem Keulenargument der Wettbewerbsfähigkeit gegeneinander ausgespielt. Und lassen es gelähmt zu.

So können alle beteiligten formellen wie informellen Akteure des Marktes, des Staates und der Zivilgesellschaft nicht von möglichen Synergien profitieren. Jeder soll auf sich allein gestellt dem Druck der soziokulturellen und -ökonomischen Torsionskräfte standhalten. Während sich Markt und Staat zunehmend im internationalen Wettbewerb um die Standorte erschöpfen, können die überanspruchten Humanressourcen die städtischen Räume immer weniger zusammenhalten. Funktionale Polarisierungen und soziale Segregationen treiben die Städte bis zur Fragmentation auseinander. Die Standortqualität und -stabilität sinkt, und aufgrund von Attraktivitätsverlusten sind wir mit dem Phänomen der shrinking cities – der schrumpfenden Städte – konfrontiert.

Weltweit schrumpfen Städte, während an anderer Stelle die Megacitys ins Uferlose boomen. Und dieser Boom nährt sich aus den städtischen Verlierern – den Schrumpfstädten. Die Schrumpfungserscheinungen werden dabei unterschiedlich benannt: Das Abwandern von Industrie und Wirtschaftsunternehmen zu anderen Standorten wird subsumiert unter dem Begriff Deindustrialisierung. Das Abwandern von ganzen, oftmals wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen ins stadtnahe Umland bezeichnet man als Suburbanisierung. Ein weiterer relevanter Faktor ist die Überalterung und das Absinken der Geburtenraten – ein „natürlicher“ Bevölkerungsrückgang. Ein Sonderphänomen ist die postsozialistische Transformation, die vor allem in den ehemaligen Ostblockstaaten zu beobachten ist. Hier bündeln sich die zuvor benannten Phänomene, zusätzlich dynamisiert durch den sozioökonomischen Umbruch der letzten 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes. Kernursache liegt jedoch immer im Attraktivitätsverlust von Städten für wirtschaftliche Aktivitäten und Investitionen sowie in einer geringen Lebensqualität.

Schrumpfende Städte finden wir in immer größerer Zahl auf allen Kontinenten. Die Städte sind überall auf der Welt bis zum Zerreißen zwischen marktwirtschaftlichen und kulturellen Ansprüchen gespannt. Dies wird die globalen Stadtlandschaften dieses Jahrhunderts prägen. Ökonomie und Kultur sich komplementär zugunsten zukunftsfähiger Lebensstile ergänzen zu lassen wird eine Kernaufgabe der nächsten 30 Jahre sein.

In der taz vom 26. 8. schrieb der Autor über das Projekt „Shrinking Cities“ der Bundeskulturstiftung