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Archiv-Artikel

Blau-weiße Hüpfburg mit Zukunft

Mit beeindruckender Souveränität gewinnen Argentiniens Fußballer das olympische Turnier, Paraguay holt Silber

ATHEN taz ■ Am Ende musste sogar der Herr Generalsekretär Polizist spielen. Weil auch die Ordner bei der Siegerehrung aufs große Schlussfoto drängten, war der Zugang von der Tribüne zum Rasen auf einmal frei. Urs Linsi, der zweithöchste Mann der Fifa erkannte das Chaos, welches dem Schlussprotokoll und damit auch seinem Chef und Zeremonienmeister Josef Blatter in Ausübung seiner liebsten Pflicht drohten – mit ausgebreiteten Händen sperrte er den Verkehr Richtung Medaillenpodest. Wahrscheinlich war Linsi in diesem Augenblick sogar dankbar für die unsinnige Terminansetzung des olympischen Fußball-Endspiels am Samstagmorgen um zehn. In der Hitze der Nacht hätte wohl kaum ein einzelner Schweizer Gardist ein paar Dutzend erfolgstrunkene und temperamentvolle Argentinier in Schach gehalten.

Walter Gack, bei internationalen Anlässen gewissermaßen das Faktotum der Fifa, sorgte derweil auf der 50 Meter breiten Medaillen-Bühne fürs stilvolle Arrangement. Nicolas Leoz, der einflussreichste Funktionär Südamerikas musste mit aufs Siegerfoto, auch wenn der sehr ernst dreinschauende alte Mann nicht unbedingt in die blau-weiße Hüpfburg passte, unter deren rhythmischem Gehopse und Geschrei das hölzerne Gestell jeden Moment bersten konnte. Señor Leoz hätte nämlich ein paar Meter weiter gehört, ins Lager Paraguays. Doch mit seinen Landsleuten konnte sich Sportskamerad Leoz in diesen Minuten nicht voll identifizieren. Der Glanz der ersten Olympiamedaille für das kleine Land war nämlich stark ramponiert worden durch die fast schon rüpelhafte Spielweise, die sich in zwei roten und einer Hand voll gelben Karten ausgedrückt hatte. Die 0:1-Niederlage gegen die übermächtigen Argentinier, die kein einziges Gegentor bei Olympia kassierten, hatten sie so aber auch nicht verhindern können.

In Atlanta bzw. Sydney hatten voreilige Analysten schon die ganz große Stunde Afrikas schlagen hören; bei den anschließenden Weltmeisterschaften ist jedoch keine der arrivierten Fußballnationen von Nigerias „Super-Adlern“ zerrupft oder von den „unbezähmbaren Löwen“ aus Kamerun aufgevespert worden. Ihren wilden Kampfnamen wurden keine dieser beiden Mannschaften gerecht.

Dagegen werden die jungen Gold-Helden der „Albiceleste“ die Zukunft des wichtigsten Sports prägen. Man braucht keinen Konjunktiv, um den weiteren Werdegang von Carlos Tevez und Andres D‘Alessandro zu beschreiben. Auch wenn Trainer Marcelo Bielsa jede Frage bereits im Ansatz abblockt, die mit morgen oder übermorgen und erst recht mit dem WM-Turnier in Deutschland zu tun haben könnte. „Ich möchte mich bei jedem Spieler bedanken. Ich möchte keinen namentlich nennen. Für mich zählt nur die Mannschaftsleistung.“ Irgendwann hat Bielsa dann aber wenigstens gesagt, dass er, was die weitere Entwicklung seines Teams betrifft, ein sehr gutes Gefühl habe.

Aber wieso soll eigentlich ein Trainer Wahrsager und sein Ensemble mit bunten Farben als designierte Weltmeister markieren? Wo doch jeder dieser Mannschaft in den Maschinenraum schauen kann. Und selbst ein Laie erkennt, dass die himmelblau-weiße Firma unter äußerster Disziplin, mit allerhöchstem Tempo und ungewöhnlicher Finesse Fußball produziert. „Nur das Verhältnis zwischen Torchancen und den erzielten Toren hat nicht gestimmt“, rügte Bielsa. Ihm schwebt ein Treffer bei drei Möglichkeiten vor. Gegen Paraguay hieß das Verhältnis eins zu zehn. Wenn man die Torstatistik des gesamten Turniers betrachtet, fällt jedoch auf, dass Bielsas wunderbar funktionierendes Kollektiv halt doch auf seine Individualisten angewiesen ist: Von den 17 Toren hat Wunderknabe Tevez acht geschossen (auch das 1:0 im Endspiel) und fünf vorgelegt. Ähnlich intensiv steckt der Wolfsburger Regisseur DAlessandro in den Torgeschichten drin.

Es gibt wohl kaum ein Land, in dem über den Stil seiner Fußball-Auswahl solch philosophische Kriege geführt werden. Luis Cesar Menotti, der Feingeist der 78er „Campeones“, predigt Kreativität und die persönliche Freiheit der Starinterpreten. Carlos Bilardo steht für die andere Richtung. Beim Trainer der Weltmeister von 1986 heißt Fußball Arbeit, Härte, Kontrolle, Verteidigung. Bielsa scheint es nun gelungen zu sein, die Schnittmenge beider Ideologien gefunden zu haben. Jenen Stoff, aus dem Argentiniens dritte Weltmeister-Generation geschaffen sein könnte. Zur Vorsicht also doch noch ein Konjunktiv.

MARTIN HÄGELE