: Hohlräume abklopfen
Latent therapeutisch: Nicolas Stemanns „German Roots“, das jetzt in Hamburg Premiere hat
Es stimmt nicht, dass dieses Thema erschöpfend bearbeitet ist; es ist nicht wahr, dass man alles weiß. Doch es ist eine Illusion zu glauben, dass weitergehende Befragungen der Tätergeneration Neues zutage fördern könnten: Etliches bleibt auf immer verschwiegen, Mythen von Gutmenschen in der eigenen Familie sind bereits mumifiziert. Drängt sich – etwa anlässlich der Wehrmachtsausstellung – doch noch ein Vorwurf in die eigene Familiengeschichte, werden die Organisatoren der Schau so lange attackiert, bis der öffentliche Diskurs über die marginalen Mängel der Schau deren eigentliches Thema übertönt.
Kein Grund also, so scheint es, das Reden über Nazi-Deutschland zu beenden – aber auch kein Anlass, ihn gerade jetzt neu aufzurollen? „Doch“, findet Regisseur Nicolas Stemann, dessen German Roots, eine im Mai uraufgeführte Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, morgen am Hamburger Thalia in der Gaußstraße Premiere hat.
Es ist der dritte Teil einer Trilogie über den Zustand deutscher Gesellschaft; vorangegangen waren Zombie 45 und Ich und Politik. „Die Erlebnisgeneration stirbt aus“, sagt Stemann zur Motivation für German Roots“ „Ich selbst kenne meine Großeltern nicht und schleppe trotzdem diese Hypothek deutscher Geschichte mit mir herum. Da entsteht ein Gefühl von Abgetrenntsein von der eigenen Vergangenheit, das ich als symptomatisch für meine Generation empfinde.“
Eine albtraumhaft-therapeutische Situation hat er deshalb in German Roots geschaffen, in dem ein junger Mann mit seinen 68er Eltern und seinen Nazi-Großeltern hadert. In der Familiengeschichte stochernd, watet der Protagonist im Schlamm und verharrt in der Frage: „Warum hast du nichts getan?“
Die Texte sind aus Recherchen der beteiligten Schauspieler in den eigenen Familien entstanden: ein „Roots“-Projekt eben. „Dieses Land braucht eine Therapie“, betont Stemann. „Die Ratlosigkeit im Umgang mit der Vergangenheit hat ein merkwürdig verqueres Selbstgefühl und eine gigantische Depression erzeugt, die wir aus eigener Kraft nicht werden beenden können.“ Eine Ära der Indifferenten, die die Nicht-Einmischung zur Tugend erklärt haben, hat er ausgemacht, „eine Generation der Angepassten, die glauben, dass sie alles besser machen als ihre Vorfahren.“ Aber ist nicht zugleich eine neue Spezies von Mitläufern geboren? „Unsere Großeltern hätten niemals gedacht, dass ihre Nachfahren ihnen ausgerechnet dies zum Vorwurf machen würden“, sagt Stemann, der keineswegs den Holocaust relativiert wissen möchte.
Die Kluft zwischen den einander verurteilenden Generationen interessiert den Regisseur, der für die nächsten beiden Spielzeiten eine Trilogie zur Wohlstandsgesellschaft am Burgtheater plant. „Oder können wir uns vorstellen, dass unsere Enkel uns vorwerfen werden, einen Führerschein gehabt oder die Gentechnologie nicht genügend gefördert zu haben?“ Genau das tun sie nämlich in German Roots, die ins zurückgebliebene Europa gesandten chinesischen Entwicklungshelfer; das Stück, zwischen 1933 und 2035 angesiedelt, klappt die Zeit – und Begriffe von „Normalität“ einfach um. Ethik verschwimmt; Begriffe von Recht und Unrecht kehren sich um, wenn man streng innerhalb des jeweiligen politischen Systems denkt.
Ob dies aber hinreichende Basis für die Recherche ausgerechnet deutscher Vergangenheit ist? Kommt das einem Werterelativismus nicht gefährlich nahe? „Es geht mir nicht ums Be- oder Verurteilen. Mich interessiert die Kluft zwischen den Generationen, zwischen Familienmitgliedern, die zu Einzelgebilden zerfallen, wie es auch unsere Gesellschaft tut. Ich möchte anhand einer Art Familienaufstellung die Zeitspasmen zeigen, in die jeder hineingerät, der sich mit deutscher Vergangenheit befasst. Denn auf dieser inneren Reise verlieren die Protagonisten irgendwann ihr Verhaftetsein in einer bestimmten Zeit. Stimmen aus der Vergangenheit werden laut – und trägt nicht jeder von uns Gedächtnismoleküle, Verhaltensmuster vorhergehender Generationen in sich?“
German Roots ist ein Projekt, das dies ausloten will. Doch es fällt Stemann schwer, zu umreißen, wonach er eigentlich sucht; vielleicht ist dieses Spiel eine ganz persönliche Versuchsanordnung auch für ihn. Eine exemplarische Suche nach Spuren der eigenen Vergangenheit – oder, wie er selbst es formuliert: „Ich bohre einen Stollen und horche die Hohlräume ab. Es könnte ja sein, dass da doch noch jemand klopft.“ Petra Schellen
Premiere: morgen, 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße, Hamburg