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Archiv-Artikel

BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNERDie Abrissbirne

Leerstelle (15): Der Zufall muss dieses Denkzeichen an der Ecke Bernauer/Wolliner Straße fallen gelassen haben

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens.

Sie ist das Werkstück, mit dem die Leerstellen ins Leben geschlagen werden, zumindest ins urbane. Sie ist die verkörperte zielgerichtete Gewalt, die Zerstörung gleichsetzt mit Schöpfung, und selten ist Gelegenheit, sie in Gestalt eines Roheisenklumpens im Stillstand und am Boden zu sehen. Hier ist sie. Sie ist, gewissermaßen, die gegenständlich umgesetzte Ruhe – wie ihr Gegenteil, die verkörperte Bewegung, der dem Auge nicht erreichbare Schwung ist, mit dem sie in zu schleifende Bauwerke kracht. Hier ist sie: ganz ausgefüllte Leere selbst. Unfähig zu selbstständiger Bewegung; wer sich fähig meint, sie bloß mit Muskeln zu bewegen, soll es versuchen, wo immer sie findet.

Sie ist die stillgelegte Geste der Zerstörung, sie verkörpert den Wandel in seiner unspektakulären plumpen Form. Sie verkörpert überdies die Geste des Durchbruchs, des begrenzten Weiterwollens und des Rückschlags. Der Arbeit und der Pause, der Störung wie der Ordnung, des Widerstands gegen die Wirklichkeit, und zugleich verkörpert sie die Wirklichkeit selbst. Und diesem durch und durch dialektischen Bild gibt sie Gestalt in ihrer leicht verbeulten Kugelform, der noch die kantigen Ecken eines Unbehagens an der Wirklichkeit entspringen. Schließlich, so rund ist die Sache nicht, so billig nicht zu haben.

Zufall, dass sie eben auf der Stelle liegt, wo nach amtlich in den Pflasterstein gelassener Markierung die Mauer stand (1961–1989). Stalins Denkmal für Rosa Luxemburg, wie Heiner Müller meinte; Aprèsgarde des Sozialismus, wie Joseph Beuys, weniger metaphorisch geladen, sie sah. Auch lässt sich sagen, dass sie, an dieser Stelle, Walter Ulbrichts Denkmal für Ida Siekmann war. Die sich hier zu Tode fiel nach einem in der Statistik berühmt gewordenen Sprung aus dem dritten Stock der Bernauer Straße Nr. 48 am Morgen des 22. August 1961. An dem Tag erschien nach den Protokollen des Stabs des Präsidiums der Volkspolizei Willy Brandt um 09.25 Uhr am Kontrollpunkt Chausseestraße und „begrüßte die Stupo“ (Stumm-Polizei); an dem Tag war gegen 12.00 Uhr am KP Bernauer/Brunnenstr. „verstärkte Aufklärungstätigkeit auf westl. Seite“ zu verzeichnen; kam um 12.40 Uhr die Meldung vom KP Potsdamer Platz ein: „Adenauer mit Begleitung eingetroffen.“ An dem Tag war als zweite Tagesmeldung eingekommen, dass „gegen 06.45 Uhr an der Bernauer Str./Ecke Wolliner Str. Sachen aus dem 3. Stock geworfen wurden und kurze Zeit darauf eine männl. Person aus dem Fenster sprang. Derselbe blieb unten liegen und wurde durch die Westfeuerwehr abtransportiert.“ An dem Tag wurde noch bekannt, dass die männliche Person die 59 (58/78/79) Jahre alte Ida Siekmann war. Im Gehweg ist sie festgehalten in Granit: „Dem Opfer / der Schandmauer / gewidmet“. Wenn ihr Sprung auch aus freiem Willen geschah, lässt sich ebenso sagen, dass er erzwungen war, weil sie (wie mindestens weitere 239 Ostberliner in folgenden 38 Jahren) der politischen Druckwelle nicht widerstand, die der Mauerbau erzeugte. Der sie aus ihrer Wohnung – Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik – aufs Trottoir der Selbstständigen Politischen Einheit Westberlin gefegt hat. Und da liegt nun die Abrissbirne. Wer sie nach Hause haben will, wird einen großen Rucksack brauchen. Gesichert ist sie nicht, die Kette ist nicht angeschlossen, sie dient allein zum Schleudern der (geschätzt) zehn Zentner Birnenmasse.

Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt, hat Zille, der Beobachter, gesagt. Eine Birne dieser Art kann’s auch. Die kann nun als mobiler Denkstein angesehen werden für Frau Siekmann. Für das Haus Nr. 48, das nicht mehr steht, seit 1972 die Abrissbirne der Grenztruppen kam. Fraglich bleibt, wie sie, die Birne, heute hierher kam, was sie hier zu suchen hat, außer einem Wochenende im Freien. Kein Haus in der Umgegend lädt durch übermäßigen Verfall zum Abriss ein. Trümmer sind nicht zu entdecken zwischen der Wolliner und der Schwedter Straße, Neubau im Hinterland statt dessen. Der sonntägliche Leerstand der Baucontainer, vor denen sie liegt, lenkt in der Tat den Verdacht auf eins der Überhand nehmenden Denkzeichen, mit denen in Berlin seit 1945 der wechselnde Opferbegriff zementiert wird. Dass es auf unauffällig-zufällige Art nicht weniger eindringlich geschehen kann, sei nur am Rand erwähnt.

THOMAS MARTIN