: Am Morgen nach der Schlacht
„Besoffen, blöd und nirgends angekommen“: Junge russische AutorInnen wie Roman Senčin, Irina Denežkina oder Ilja Stogoff erzählen in ihren Romanen vom Schicksal einer Generation, die zwischen den historischen Umbrüchen verloren gegangen ist
von KOLJA MENSING
„Nie trenn ich mich vom Komsomol, ich bleibe ewig jung!“ (Zeile aus dem Lied, das vor jeder Versammlung des sowjetischen Jugendverbandes gesungen wurde)
Auch in Minusinsk hatte man Pläne gemacht. Nach dem Ende der Sowjetunion sollte auf der brachliegenden Fläche im Zentrum der sibirischen Stadt eine moderne Sportanlage entstehen. Als das Geld für dieses Projekt nicht zusammenkam, träumte man von einer großzügigen Grünanlage, und als es damit nicht voranging, kamen die fliegenden Händler. Auf Kisten und Klappstühlen sitzen zermürbte Menschen, die früher in einer Fabrik gearbeitet haben und sich nun mühsam ihren Lebensunterhalt verdienen: „Zuerst haben sie natürlich geglaubt, das wäre ein provisorischer Zustand. Später haben sie kapiert, dass dies ihr weiteres Leben sein wird.“
Auch der junge Erzähler in Roman Senčins Roman „Minus“ hat die Hoffnung auf ein anderes Leben längst aufgegeben. Eigentlich wollte er „eine Band gründen“ und „ein Demo-Tape nach Nowosibirsk oder Moskau schicken“, aber jetzt betrinkt er sich jede Nacht mit seinen Freunden. Jura, der Maler, tauscht seine Bilder gegen billigen Wodka, und wenn Sergej anfängt, von dem großen Roman zu erzählen, den er schreiben will, winken die anderen nur gelangweilt ab: „Hast du diese Krankheit noch immer nicht überwunden?“ Mehr als dreihundert Seiten über verbummelte Nachmittage, versoffene Nächte und verkaterte Vormittage: Mit „Minus“ hat Senčin, Jahrgang 1971, ein bemerkenswert hoffnungslos gestimmtes Debüt vorgelegt. Und er hat einen neuen Ton in der russischen Literatur angeschlagen.
In den Neunzigerjahren galt die Aufmerksamkeit vor allem Autoren wie Wiktor Pelewin, Wladimir Sorokin oder Eduard Limonow, die sich in ihren oft parodistischen Romanen postmoderner Erzählstrategien bedienten und die Dämonen der sozialistischen Vergangenheit zum Kampf mit den Geistern der kapitalistischen Gegenwart aufriefen. Die Werke dieser Autoren, die man nach dem Titel einer Anthologie gerne als die „russischen Blumen des Bösen“ bezeichnete, waren grotesk und obszön, adaptierten die Formprinzipien der Science-Fiction-Literatur oder der Pulp Novel und setzten auf gezielte Tabubrüche und Provokationen.
Die Behandlung des postsowjetischen Alltags als neurotischen Ausnahmezustand scheint jedoch langsam aus der Mode zu kommen. Jüngere Autoren wie Roman Senčin, Alexander Ikonnikow oder Ilja Stogoff, deren Bücher pünktlich zur Buchmesse mit ihrem Russland-Schwerpunkt auch in deutschen Übersetzungen erscheinen, beschäftigt nämlich nicht mehr die unberechenbare Dynamik und „fürchterliche Unbestimmtheit“ der Gegenwart, von der Wiktor Pelewin in seinem manifestartigen Roman „Generation P“ gesprochen hatte. Sie zeichnen stattdessen das Bild einer Generation, die irgendwann zwischen den so genannten historischen Umwälzungen im Sumpf der Geschichte stecken geblieben ist – und für die sich „sehr, sehr lange nichts ändern wird“. Ihre Angehörigen waren zu jung, um sich Anfang der Neunziger als Unternehmer in die Schlacht der freien Marktwirtschaft zu stürzen. Jetzt, mit 25 oder 30 Jahren fühlen sie sich bereits zu alt für einen neuen Anfang.
Also betäuben sich auch die Figuren in Ilja Stogoffs Debütroman „Machos weinen nicht“ den lieben langen Tag mit Wodka, Heroin und Fensterreiniger, während um sie herum in Petersburg die neue Zeit beginnt. In den Nachtclubs kippt man Tequila, die Sushi-Restaurants sind gut besucht, und vor dem Café Sewer, wo sich vor kurzem noch die Valutaschieber trafen, ruhen sich jetzt die Inlineskater aus. Die alte russische Stadt verwandelt sich in eine westliche Metropole, doch Ilja Stogoffs namenloser Held, ein schlecht bezahlter Journalist mit großem Durst, landet zusammen mit seinen abgewrackten Kumpels nach einer Tour durch das glitzernde Nachtleben zuletzt nur wieder in einem armseligen Bordell. „Mehrere Imperien sind zusammengebrochen“, zieht er das verkaterte Fazit seines Lebens: „Aber ich bin wie immer besoffen, blöd, und nirgends angekommen.“
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Romane wie „Minus“ oder „Machos weinen nicht“ unterhaltsam oder gar spannend zu lesen wären. Zugunsten eines dreckigen und distanzlosen Realismus verzichten ihre Autoren auf eine unnötige Dramatisierung des Alltags. Oft geht es nur um das eine: „Ich muss mich schnell betrinken und dann umfallen.“ Das zumindest nimmt sich Roman Senčins Erzähler jeden Tag von neuem vor, und so ist die auch Einberufung seines Freundes Saša zunächst einmal nur einer von vielen Anlässen für ein Besäufnis. „Die Tschetschenen machen einen Sklaven aus mir“, jammert Saša, und keiner seiner Freunde, die an seinem Tisch sitzen und Wodka in sich hineinstürzen, kann ihn trösten. Das Leben in Minusinsk kommt ihnen genauso kaputt und aussichtslos vor wie der Kampf gegen die Rebellen im Kaukasus.
Der Krieg, das ist die einzige verbindliche Metapher, auf die sich die jungen russischen Schriftsteller einigen können. Bei Ilja Stogoff hat er in Form von Camouflage-Hosen aus dem „Legionärs-Shop“ Einzug in die Petersburger Nachtclubs gehalten, und bei Alexander Ikonnikow, Jahrgang 1974, wird er zum Prinzip eines ganzen Landes: „Aus jahrhundertelanger Gewohnheit zerstöre man das Alte, ohne die geringste Vorstellung zu haben, wie das neue sein sollte“, beschreibt er in seinem schön komponierten Roman „Liska und ihre Männer“ eine der zahlreichen Umwälzungen nach 1989.
Liskas Vater ist in den Siebzigerjahren, als sie noch ein kleines Kind war, in einem der vielen unsichtbaren Kriege der Sowjetunion gefallen, und jetzt, als junge Frau, verliebt sie sich in Max, den jungen Invaliden. Er hat in Tschetschenien ein Bein verloren und wird nun die Bilder von gefolterten Söldnern und zerstückelten Leichen nicht los: „Wenn sie die Häuser betraten, töteten sie alle. Ihre Notdurft verrichteten sie auf die Teppiche und tranken Spiritus aus Kristallgläsern. Die Wertsachen bekamen die Offiziere, die sie heim nach Russland schickten. Warum er die alte Oma getötet hatte, wusste Max nicht mehr. Wahrscheinlich hatte er zu viel Gras geraucht.“
Angesichts der verlorenen Gestalten, die diese Auswahl von Werken der jungen russischen Literatur bevölkern, erscheint Irina Denežkinas in Russland bereits gefeiertes Erzähldebüt „Komm“ zunächst geradezu lebensfroh. Die Autorin ist Jahrgang 1981, und ihre Ljochas, Nastjas und Ljudkas sind nicht mit dem Komsomol, sondern mit den Backstreet Boys aufgewachsen. Als das ideologische Gebäude der Sowjetunion in sich zusammenfiel, waren sie noch nicht einmal in der Pubertät, und mit der „Straße der Dekabristen“ verbinden sie höchstens die Erinnerung an ein missglücktes Date. Sie führen endlose Gespräche über „das Internet, Hunde, Sex, den Kosmos, ihre Kindheit und ihre Freunde und ihre Familien“, und die Jugend ist für sie ein einziger Rausch: „So schnell geht bestimmt nie mehr irgendwas.“
Doch auch in diesen jungen und ungestümen Geschichten hat die Wirklichkeit ihre blutigen Spuren hinterlassen. Wenn der schüchterne Ljapa sich in Erwartung eines heftigen Zungenkusses „durch seine Verlegenheit wie durch Stacheldraht kämpft“, hat der Krieg vorerst nur die Sprache infiziert. Für den schweigsamen Denja jedoch, der gerade erst mit kahl geschorenem Kopf und neuen Tattoos aus Tschetschenien zurückgekehrt ist, wird er bereits zur Lebensphilosophie: „Ohne den Krieg kriegst du das Härteste nicht mit“, erklärt er dem Mädchen, in das er sich verliebt hat, gleich bei ihrer ersten Verabredung. Er zeigt ihr die Fotos, auf denen er mit nacktem Oberkörper und umgehängter Maschinenpistole posiert, und schwärmt von Blut und zerfetztem Fleisch: „Ich will in den Krieg. Damit ich dort umkomme. Aber richtig.“ Auch wenn der Krieg eigentlich „unten im Süden“ geführt wird: Russland ist ein Land, das sich im Kriegszustand befindet, und eben davon erzählen die Bücher der jungen Schriftsteller. Von dem „Blutbad“, das eine Spezialeinheit der russischen Polizei in Ilja Stogoffs „Machos weinen nicht“ mit ihren Gummiknüppeln unter den Besuchern eines Punkkonzerts anrichtet, ist es genauso wie von Denjas selbstmörderischen Reflexionen über die Gemeinsamkeiten von „Rekruten“ und „Rebellen“ kein weiter Weg zu den ganz realen Fernsehbildern von dem grausamen Selbstmordattentat, das sich in diesem Sommer bei Moskau ereignete. Zwei tschetschenische Terroristinnen sprengten sich im Juli auf einem Open-Air-Festival in Tuschino in die Luft und nahmen 13 Menschen mit in den Tod. Die Terroristinnen, hieß es in den Nachrichten, seien im gleichen Alter wie die Konzertbesucher gewesen.
In Russland hat auch die MTV-Generation ihre Unschuld längst verloren. „Ich fühle mich gut“, schreibt Irina Denežkina, die in einem Interview erklärte, dass sie eigentlich nur „Geschichten über Teenager“ erzählen will: „Ich fühle mich gut, wie in einem Luftschutzkeller.“
Irina Denežkina: „Komm“. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja und Franziska Seppeler. S. Fischer, Frankfurt am Main 2003. 251 S., 17,90 €ĽAlexander Ikonnikow: „Liska und ihre Männer“. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Rowohlt, Reinbek 2003. 188 S., 17,90 €ĽGalina Dursthoff (Hrsg.): „Rußland. 21 neue Erzähler“. DTV, München 2003. 282 S., 9,50 €ĽRoman Senčin: „Minus“. Aus dem Russischen von Ulrike Zemme. Dumont, Köln 2003. 300 S., 19,90 € Ilja Stogoff: „Machos weinen nicht“. Aus dem Russischen von Margret Fieseler. Droemer, München 2003. 380 S., 19,90 €