Zehn Jahre alt und schwanger

Zwanzig Schülerinnen im Alter von zehn Jahren haben im vergangenen Jahr abgetrieben – ein Phänomen, das es noch vor wenigen Jahren gar nicht gab. Die Schulen sollen mehr aufklären, aber darunter versteht jedes Bundesland etwas anderes

von HEIDE OESTREICH

1996 gab es das Phänomen laut Statistischem Bundesamt noch nicht: Eine Null steht in der Spalte der Zehnjährigen, die abgetrieben haben. 1997 steht da eine Eins, 1999 eine Sechs, 2002 eine Zwanzig.

Zwanzig Kinder im Alter von zehn Jahren sind in Deutschland 2002 schwanger gewesen. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bei unter Vierzehnjährigen verdoppelte sich in dieser Zeit von 365 auf 761. Während volljährige Frauen immer weniger Abtreibungen vornehmen lassen, steigen die Zahlen bei Minderjährigen immer weiter an. Was ist los mit Deutschlands Jugend?

Die Antwort ist auf den ersten Blick sehr einfach: Bessere Ernährung und vermehrte Östrogenzufuhr haben die Geschlechtsreife der Mädchen zeitlich nach vorne verlagert, heißt es allenthalben. Zudem sei Sexualität überall präsent. Man probiert also aus.

Ganz natürlich? Kaum. Je früher die Sexualreife einsetzt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sexuell missbrauchte Kinder schwanger werden, heißt es etwa bei Pro Familia. Diese monströse Tatsache könnte einen Teil der Statistik erklären. Aber auch, wenn Zehn- bis Fünfzehnjährige nicht durch eine Gewalttat entjungfert werden, kann das etwa der Pro-Familia-Experte András Magyar aus Halle nicht normal finden. Das klassische Nachmittagsprogramm im Fernsehen bestehe seit einigen Jahren aus Talkshows mit explizitem Inhalt, so Magyar. Vera am Mittag, Bärbel Schäfer und Arabella Kiesbauer reden über neue Sexideen, Perversionen und Vaterschaftstests. „Die Kinder sehen das und probieren es aus.“

Zehnjährige könnten sich vom Gesehenen nicht kritisch distanzieren. „Das sind alles Vorbilder, die da rumflirren.“ Nach Magyars Ansicht haben diese Themen im Nachmittagsprogramm nichts verloren: „Der Jugendschutz ist hier nicht in Ordnung.“

Norbert Kluge, emeritierter Doyen der Sexualwissenschaft aus Landau, setzt einen anderen Akzent. Die Sexualerziehung in der Schule sei auf die Frühreife schlicht nicht eingestellt, meint er. „Wir müssen schon in der Grundschule mit der Sexualpädagogik anfangen“, lautet seine Forderung. Das aber würden nur die wenigsten Bundesländer in ihren Richtlinien für die Sexualpädagogik in der Schule vorsehen. „In Rheinland-Pfalz heißt das einzige diesbezügliche Thema für die vierte Klasse: Die Mutter pflegt den Säugling.“ Das Thema Verhütung sei dort erst für Klasse neun vorgesehen – viel zu spät. Für ihn ist es deshalb kein Wunder, dass Rheinland-Pfalz einen besonders starken Anstieg an Teenie-Schwangerschaften verzeichnet – um 146 Prozent.

Kluge hat die Richtlinien der einzelnen Bundesländer für die Sexualerziehung verglichen und meint, durchaus Verbindungen zu den Teenager-Schwangeren herstellen zu können. So ist die Zahl der Schwangerschaften bei Minderjährigen in Bayern drastisch gestiegen – zwischen 1996 und 2001 um 177 Prozent. Sexualerziehung in der Schule ist zwar auch in bayerischen Richtlinien verankert, aber „mit dem vorrangigen Ziel der Förderung von Familie und Ehe“, so heißt es in der neuesten Fassung von 2002. Das Thema Verhütung taucht in der 20-seitigen Bestimmung gar nicht explizit auf, dafür mehrmals das Ziel, den Kindern die „Achtung von dem ungeborenen Leben“ nahe zu bringen, oder die „Problematik früher Sexualbetätigung und früher Dauerbindung junger Menschen“. Unter Aufklärung versteht eben jedes Bundesland etwas anderes.

Pro Familia München bestätigt das. „Entweder es gibt engagierte Menschen, die sich um die Sexualerziehung kümmern, einen Rektor, Lehrer oder Eltern. Oder es passiert eben nichts“, so der Sozialpädagoge Michael Niggel von Pro Familia München. Vielen Lehrern sei das Thema unangenehm. In anderen Bundesländern lade man deshalb gerne Pro Familia ein. Doch die sind für Bayern wohl zu explizit. „Auf dem Land tut man sich schwer damit“, meint Niggel. Die Rektoren hätten Angst, dass man durch frühzeitige Aufklärung „die Kinder ‚versaut‘“, so seine Interpretation.

Norbert Kluge stützt diese Vermutung. „Es gibt immer noch die Anschauung, dass die Kinder durch zu frühe Aufklärung ‚verdorben‘ würden“. Aber, so der Wissenschaftler: „Wer so argumentiert, kennt die Jugend nicht.“ Kluge verweist auf Studien, nach denen SchülerInnen mit Sexualerziehungsunterricht sich eher Zeit lassen mit dem ersten Sex und dann zu einem höheren Prozentsatz verhüten als ihre KameradInnen ohne Aufklärungsunterricht.

Das Gegenbeispiel zu Bayern ist Sachsen-Anhalt: Mit nur 18 Prozent Anstieg seit 1996 hat das Land weiterhin eine niedrige Teenager-Schwangerenrate und dabei eine hohe „Aufklärungsrate“, wenn man die Einladungen der Schulen an Pro Familia zum Maßstab nimmt. „Wir können die Anfragen nicht alle bedienen“, so der Pro-Familia-Mitarbeiter András Magyar aus Halle. „Fast alle Schulen fordern Experten an.“ Magyar hat eine einfache Erklärung für die geringeren Schwangerschaftsraten in den Ost-Bundesländern: Das Sexualtabu sei in der DDR sehr viel schwächer gewesen als im Westen. „Die Schamgrenze im Osten ist niedriger. Die ältere Generation hat kaum Probleme damit, über Sex zu sprechen.“ Dementsprechend leichter falle es den LehrerInnen, dem Thema Aufklärung einen großen Raum zu geben.

Ist es so einfach? Ordentliche Aufklärung in der Schule, und das Problem ist erledigt?

Leider nein. Denn gerade der Ländervergleich zeigt, dass das gesamte soziale Klima und auch die Einstellung der Eltern Einfluss auf das Verhalten der Jüngsten hat, nicht nur die Bemühungen der Lehrer. Niedersachsen etwa bemüht sich laut Pro Familia Hannover redlich um Aufklärung, dennoch sind die Zuwächse an Teenager-Schwangerschaften hoch: 213 Prozent in den letzten 6 Jahren.

Auch in Rheinland-Pfalz sieht man nicht so sehr ein Problem des Lehrplans. Pro-Familia-Geschäftsführerin Barbara Zeh erklärt: „Die Lehrer sind weniger schamhaft, als die Richtlinien suggerieren.“ Aber: „Schulunterricht ist nicht immer die geeignetste Form, über Sexualität zu reden.“ Dieses Thema sei nicht per Abfragen erledigt. Zeh verspricht sich mehr davon, wenn es in den neu entstehenden Ganztagsschulen nachmittags in einer freieren, vertrauensvolleren Atmosphäre besprochen werden kann.

Selbst wenn Kinder eine Menge über Schwangerschaft, Sexualverkehr und Verhütung wissen: „In der Praxis klappt’s dann oft nicht so, wie gedacht“, hat Barbara Zeh oft von Jugendlichen in ihrer Beratung gehört. „Beim ersten Mal passiert schon nichts“, glauben viele wider alles Wissen. Oder man meint, die Pille zu nehmen, hat sie aber ein paarmal vergessen. Oder hat fruchtbare Tage falsch errechnet.

Es gibt aber auch Jüngst-Schwangere, die eine Schwangerschaft gar nicht verhüten wollen. „Wer das Gefühl hat, nirgendwo hinzugehören, für niemanden von Bedeutung zu sein, für den kann das Kind als willkommener Ausweg erscheinen“, meint Zeh. Als Mutter haben die Mädchen eine Rolle, werden wahrgenommen, haben jemanden, der sie braucht. Gerade in Zuwandererfamilien, etwa von Spätaussiedlern, kämen solche Kinderschwangerschaften deshalb gehäuft vor. „An Kindern, die sich mit ihrer problematischen Biografie und ihrem schwierigen Elternhaus herumschlagen, rauschen die schönsten Aufklärungsprogramme ebenso vorbei wie jede Matheformel“, so Zeh.

Mit einer schlichten Vorverlagerung der Sexualaufklärung in die Grundschule, wie Norbert Kluge sie anrät, wäre also nur ein kleiner Schritt getan. Ein unzureichender, wie András Magyar betont. Denn nicht nur diese, jede Art der Aufklärung stößt bei Zehnjährigen an gehirnphysiologische Grenzen: „Viele Zehnjährige können Langzeitwirkungen noch nicht überblicken.“ Der Zusammenhang zwischen dem, was sie machen, und einer Schwangerschaft ist für diese Kinder schlicht zu abstrakt.