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Archiv-Artikel

Das Zahnfleisch blutet

Echt sein, wahr sein, lebendig sein: Der Hamburger Autor Benjamin Maack ist ein Paradebeispiel dafür, wie junge deutsche Literatur funktioniert. Er liest sogar im St. Pauli-Stadion, und manchmal tritt er dabei in Konkurrenz zu seinen eigenen Figuren

von Andrea Mertes

Näher ran an die Leute, die Geschichten liegen auf der Straße, echt sein, wahr sein, lebendig sein – es ist ein ehrenwerter Kampf, den die junge deutsche Nonprofit-Literatur kämpft, ihrer Daseinsberechtigung wegen. Überall entdeckt sie im Alltäglichen diese Bilder, Embleme der Jetztzeit, eigentlich klein und unbedeutend, die aber als Symbol taugen. Die Interpretation bleibt dabei oft dem Zuschauer überlassen. Der Autor sieht und notiert. Er ist nur das Medium.

Benjamin Maack, Jahrgang 1978, ist ein solcher Autor. In einer Kleinstadt (Winsen an der Luhe) geboren, in die Großstadt (Hamburg) gewechselt. Literarisch sozialisiert über Poetry Slams und andere literarische Kundgebungen, von Beruf Journalist (Blond), ist er seit kurzem auch Buchautor (Du bist es nicht, Coca Cola ist es). Einer von den jungen Mutigen, die nach vorne marschieren und sich ausprobieren. 28 Gedichte und eine Kurzgeschichte. Parkaträger, S-Bahn-Fahrer, Kellogs-Frühstücker: Miniaturen aus der Welt, wie sie alltäglicher nicht sein könnte. Näher ran an die Leute.

Wer noch keinen Autorenvertrag mit den Big Five der deutschen Buchbranche abgeschlossen hat, der kann es sich leisten, an einem Sonntagnachmittag am Hamburger Elbstrand zu sitzen, müßig, ein ausgedrucktes Manuskript in der Hand. Zwei Lautsprecher sind aufgebockt, dazwischen steht ein Barhocker. Der Hamburger „Writer‘s room“ hat zur Lesung „Poets on the beach“ geladen. Publikum und Dichter hocken gemeinsam da, zwischen Bierflaschen, Picknickkörben und Wolldecken. Man begegnet sich auf Augenhöhe. Die Menge der Zuhörer ist groß. Das Konzept, Literatur als eine Form von Annäherung zu definieren, funktioniert.

Benjamin Maack ist auch da. Er soll hier als Fünfter lesen. Er hat Pech. Eine dunkle Gewitterwolke zieht von Övelgönne heran, Regen kracht hinunter, die Menschen verschwinden unter die Markisen der benachbarten „Strandperle“. Maack auch. Aus seinem Rucksack zieht er eine rote Regenjacke hervor. Straßenkämpfer der Literatur müssen für alle Eventualitäten gewappnet sein. Vielleicht wird er, ein junger Mann mit weichen Zügen und rotem Wikingerbart, diesen Moment in einer zukünftigen Geschichte festhalten. Ein verregneter Auftritt, der unter nervös bellenden Hunden endet, das ist traurig, und Traurigkeit ist ein verlässliches Element in Maacks Texten. „Seit zwei Tagen kein Anruf, seit einer Woche keine Post mehr, und irgendwie blutet mein Zahnfleisch schon wieder.“

Wie er einzelne Bilder miteinander verquickt, das ist originell. Er erzählt vom Alltag, aber nicht von Klischees. Außer vielleicht diesem einen: Dass Menschen unter 30 scheinbar stets mit schmerzhafter Selbstfindung beschäftigt sind. Ein letztes Mal näher ran die Leute. Der harte Kern der Strand-Hörerschaft hat sich in dünne Plastikfolie aus dem Baumarkt gewickelt und will, dass die „härteste aller Lesungen“ (so die Veranstalter angesichts des Wettersturzes) weitergeht. Also darf der Autor nicht fehlen. Maack ist zurückgekommen, jetzt sitzt er auf dem nassen Barhocker, er scheint zu frieren, aber er liest. „Maria und Daniel“ heißt die Geschichte, und der Himmel sieht darin aus wie „eine graue Platte“.

Das Ganze dauert nur fünf Minuten, das ist Poetry-Slam-Format. „Nein“, sagt Maack später, „der Text ist noch unveröffentlicht, aber es gibt einen Gedichtband von mir, der heißt ...?“ Dann fällt ihm der Titel nicht direkt ein. Er muss auch weiter ins Millerntor-Stadion, da wird er noch mal lesen, als Einstimmung aufs Open-Air-Kino. Einer wie Benjamin Maack macht aus dem geschriebenen Wort ein gesellschaftliches Erlebnis. Der Autor wird zur Konkurrenz seiner Figuren, und manchmal ist er sogar besser als sie. Die Literatur ist unter uns.

Benjamin Maack: „Du bist es nicht, Coca Cola ist es“. Verlag Minimal Trash Art, 2004, 80 Seiten, 8,90 Euro. Nächste Lesung: Donnerstag, 21. Oktober, Fundbureau