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Archiv-Artikel

Der Mut ist gefesselt

Bei den US Open kassiert Rainer Schüttler gegen den Qualifikanten Andreas Seppi eine weitere Erstrundenniederlage, für die er keine Erklärung hat. Florian Mayer darf gegen Andre Agassi spielen

AUS NEW YORK DORIS HENKEL

Wieder verlor er ein Spiel, das er fast schon gewonnen hatte, und wieder wusste er keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Das letzte der vier Grand-Slam-Turniere 2004 endete für Rainer Schüttler in New York, wie das erste vor acht Monaten in Australien begonnen hatte, mit einer Niederlage in fünf Sätzen in Runde eins. Als er damals in Melbourne sagte: „Der Januar war ein einziger Albtraum, schlimmer kann’s nicht werden“, hatte er noch keine Ahnung, dass ihn dieser Albtraum fortgesetzt heimsuchen würde. Nach der Niederlage gegen den Italiener Andreas Seppi (6:3, 6:4, 6:7, 6:7, 1:6) gab er nun zu: „Das war ein katastrophales Jahr.“ Eine nicht abreißende Folge von Enttäuschungen, doppelt schmerzhaft empfunden nach dem Hochgefühl der Erfolge 2003.

Aber schlimmer als die Zahl der Niederlagen an sich – allein 16 in der ersten Runde – ist die Ratlosigkeit. Das Beispiel Seppi ist eines von vielen: Zwei Stunden lang spielte Schüttler gut gegen den Qualifikanten vom Weltranglisten-Platz 171, doch nachdem er Ende des dritten Satzes beim Stand von 6:5 zwei Matchbälle vergeben hatte, bröckelte sein Spiel. Am Ende der dreieinhalb Stunden sah es so aus, als ergebe sich Schüttler dem Schicksal ohne Widerstand.

Er versichert, dem sei nicht so, das habe er noch nie gemacht. „Ich gebe mein Bestes, ich will gewinnen, aber da waren dieses Jahr so viele verkorkste Partien, in denen ich mich gefragt habe: Wie kann das eigentlich sein?“ Dabei hat er einen der Gründe längst erkannt. Vor einem Jahr, als alles über Erwarten gut lief und er sich zur Zeit der US Open fast schon fürs Masters-Finale der acht Besten qualifiziert hatte, profitierte er vom Selbstvertrauen und dem Mut, sich mit riskanten Bällen aus kritischen Situationen zu befreien. Niederlagen aber fesseln den Mut.

Und vielleicht ist es einfach so, dass er immer wieder von der Angst beherrscht wird, sich selbst zu enttäuschen. Die positiven Erlebnisse in diesem Jahr – Finale in Monte Carlo, Halbfinale in Halle, Gstaad und Kitzbühel und die Silbermedaille aus dem olympischen Doppel mit Nicolas Kiefer – haben daran nichts geändert. Was zählt in diesem Geschäft, sind nicht Kitzbühel und Halle, sondern Melbourne, Paris, Wimbledon und New York, und da ist die Bilanz unbestritten schlecht: zwei einsame Siege in Wimbledon, ansonsten Fehlanzeige und Frustprogramm.

Auch Coach Dirk Hordorff ist mit seinem Latein offenbar am Ende. Er sagt: „Das ist alles unerklärlich. Er muss jetzt einfach durchatmen und sehen, dass er die Saison irgendwie zu Ende bringt.“ Schüttler glaubt, dieses irgendwie in weiteren Aktivitäten zu finden. In New York wird er im Doppel an der Seite des Russen Michail Juschni bleiben, danach wird er zu den China Open nach Peking fliegen, und in der Woche darauf steht das Play-off-Spiel mit dem deutschen Davis-Cup-Team in der Slowakei auf dem Programm. Ob er dort in der aktuellen Form zum Einzelspieler taugt, mag er nicht beurteilen; das sei Sache des Teamchefs.

Doch Patrik Kühnen hat im Gegensatz zum vergangenen Jahr, als die Mannschaft in Sundern das Abstiegsspiel gegen Weißrussland verlor, diesmal die Wahl mit Nicolas Kiefer, mit Thomas Haas – und mit Florian Mayer. Der brauchte genau noch zweieinhalb Minuten, um das in der Nacht zuvor im Regen abgebrochene Spiel gegen Flavio Saretta 6:4, 6:2, 6:1 zu gewinnen, und nun geht er mit frischem Mut in jene Partie, auf die er sich so sehr freut wie auf keine zuvor – das Match gegen Andre Agassi. Zu den auffälligsten Eigenschaften des Debütanten Mayer gehört eine erfreuliche Mischung aus Realismus und Angriffslust, die er zu erkennen gibt, wenn er sagt: „Ich habe in diesem Jahr so viele gute Spiele gemacht, dass ich so ein Match auch verdient habe.“

Ungefähr zur gleichen Zeit vor einem Jahr spielte er bei einem viertklassigen Turnier in Teheran, gewann gegen einen Russen namens Artem Naymunschin und gegen einen gewissen Victor Bruthans aus der Slowakei, jetzt glaubt er an eine Chance auf dem größten Tennisplatz der Welt gegen Andre Agassi. Was, wie auch das Beispiel des Kollegen Schüttler, zeigt, dass sich in relativ kurzer Zeit verdammt viel ändern kann im Tennis – und dass es nicht immer eine einfache Erklärung für alles gibt.