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Archiv-Artikel

Schatten ihrer selbst

Der Tanz vor dem Spiegel als Therapie: Der Dokumentarfilm „Die dünnen Mädchen“ versucht die Erfahrungswelt von Magersüchtigen zu ergründen, ohne die bekannten Klischees zu reproduzieren

VON CILLI POGODDA

Der Raum ist voller Körper. Eigentlich ist gar kein Raum erkennbar, nur Körper und ihre Spiegelbilder. Eingetaucht in warmes Licht von unbestimmter Herkunft. Junge Frauen aus einer Therapieanstalt für Magersüchtige machen einen Flamencokurs. Sie sollen in den Spiegel schauen, sagt die Tanzlehrerin, die eigenen Bewegungen betrachten und sich selbst in die Augen blicken. Sich selbst wieder als Körper sehen.

Das tun die Mädchen, und die Kamera macht es ihnen nach. Sie zeigt Nahaufnahmen von schmalen Gesichtern und dünnen Armen, erforscht die noch etwas staksigen Bewegungen. In ihrem Dokumentarfilm „Die dünnen Mädchen“ versucht Regisseurin Maria Teresa Camoglio das Wesen der Magersucht nicht nur zu beschreiben, sondern die Wahrnehmungswelt der Mädchen sinnlich fassbar zu machen. Dies gelingt ihr mit einfachen Mitteln, auf intime und zugleich erschütternde Weise. Ab heute ist der Film im Rahmen des bundesweiten Filmfestivals „Ueber Macht“ im fsk-Kino am Oranienplatz zu sehen.

Was der Film dokumentiert, ist kein Therapiealltag. Der Tanzkurs ist, ebenso wie alle anderen gezeigten Unternehmungen, speziell für die Dreharbeiten veranlasst. Die Kamera rückt dabei mit recht sachlichen, aber doch intimen Bildern nah an die jungen Frauen heran.

Diese haben den Film maßgeblich mitgestaltet, teilweise sogar selbst mit Videokameras gedreht. Für sie ist das Selbsterfahrung, die sie teilweise an ihre Grenzen bringt. Regisseurin und Zuschauer kommen auf diese Weise nah an ihr Erleben und ihren Konflikt heran. So wird nachvollziehbar, was die Patientinnen mehrmals betonen: dass ihre Krankheit nichts mit Mode und Schlankheitswahn zu tun hat.

Die Auslöser ihrer Magersucht sind vielfältig. Der Tod der Schwester oder das übermächtige Gefühl, erwachsener sein zu müssen. Die Mädchen erzählen von unerfüllbarer Selbsterwartung, von einem Gefühl der Ohnmacht. Das Einzige, das sie dem entgegenzusetzen wussten, war die vollkommene Kontrolle des eigenen Körpers.

Erstaunlich dabei ist, wie reflektiert die Mädchen von ihrer Krankheit erzählen. Es gibt keinen Off-Kommentar, sie schildern alles selbst, in präzisen, sorgsam gewählten Worten, die auf Intelligenz und Bildung schließen lassen. Sie scheinen ein absolut unverstelltes Bild ihrer eigenen seelischen Situation zu haben. Mit viel Abstand und Ironie dokumentieren sie selbst mit einer Videokamera die eigenen perfiden Tricks zum heimlichen Kaloriensparen. Man ist sich schon fast sicher, sie hätten ihre Krankheit fest im Griff. Bis sie ein gemeinsames Abendessen planen.

Plötzlich liegen die Nerven blank. Ein Mädchen verlässt wütend den Raum. Sie planen ein Essen mit drei Gängen – eine Kraftprobe, die ihnen alles abverlangt. Sie verhandeln über Zutaten, Kalorien und Fettgehalt. Zum ersten Mal wird für den Zuschauer der Konflikt spürbar, in dem sich die jungen Frauen befinden: Sie sind sich ihres Handelns voll bewusst und können dennoch nichts dagegen tun. Nach den einlullenden Bildern des Tanzkurses und den starken Worten der Mädchen erschreckt und ernüchtert dieser bittere Konflikt über eine alltägliche Angelegenheit.

Die letzte Sequenz des Films zeigt die Mädchen bei einem selbst inszenierten Schattenspiel. Sie sind nur noch als graue Silhouetten hinter einer Papierwand zu sehen, als Schatten ihrer selbst. Ein einfaches Sinnbild, das aber große Wirkung entfaltet, wenn man es gegen die Bilder des Tanzkurses vom Anfang stellt.

Maria Teresa Camoglio: „Die dünnen Mädchen“, D 2008, 94 Min., im fsk-Kino, Segitzdamm 2