Mit Dackel und Vaterhass

Ein Roadmovie, eine schräge Komödie und ein Abschied vom toten Vater: In Sibylle Lewitscharoffs sprachmächtigem Roman „Apostoloff“ wirken Trauer und Trauma als Schmierstoff für eine große Vernichtungs- und Wortmaschinerie

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Ein seltsamer Zug durchquert Südosteuropa: Dreizehn Limousinen, die sich von Stuttgart-Degerloch aus über die Schweiz, Italien und Griechenland ihrem Ziel entgegenbewegen – Bulgarien. Zweck der Reise: der Transport der Überreste einer Gruppe von bereits lange verstorbenen Exilbulgaren in ihr Heimatland.

Ein Leichenzug also. Die Angehörigen begleiten sie, angeführt vom Initiator der Aktion, dem so reichen wie glatzköpfigen Tabakoff, der überdies eine Vereinbarung mit einer schwedischen Bestattungsfirma getroffen hat, die eine wissenschaftlich neue Methode zur hygienischen Pulverisierung von Leichen erfunden haben will. So weit die abenteuerliche Geschichte, doch sie steht nicht im Mittelpunkt von Sibylle Lewitscharoffs Roman, sondern ist lediglich willkommener Anlass für eine bis ins Detail ausgearbeitete Suada der Erzählerin, der Tochter einer der Beerdigten, die im Anschluss an die Bestattungsfeier noch gemeinsam mit ihrer Schwester und dem Bulgaren Rumen Apostoloff durch das Land fährt.

„Apostoloff“ ist nur auf den ersten Blick ein Roadmovie; die Struktur ist in Wahrheit weitaus komplizierter und weniger linear, als es erscheint. In ihrem wuchtigen Sprachstrom springt die Erzählerin zwischen Zeit und Raum, zwischen christlicher Missionsgeschichte eines mittlerweile gottlosen Landes, kommunistischer Verheerung der Gegenwart, schwäbischer Kindheit mit Dackel und Vaterhass hin und her.

„Apostoloff“ ist ein Abrechnungsbuch mit dem allgegenwärtigen Vater, einem Arzt mit strengen Regeln, der sich, nach mindestens einem zuvor gescheiterten Selbstmordversuch in der Badewanne, erhängt hat, als die Erzählerin noch ein Kind war, und der nun selbst in Bulgarien nicht von ihrer Seite zu weichen scheint: „Ich merke, dass der Vater ein Auge auf uns hat. Wie, weiß ich nicht, aber es ist geöffnet, das Vaterauge. Halb schlafend, halb wach ruht der Vater am Rand des Horizonts.“

Eine ausgeprägte Misanthropie als Schreibimpuls hat, wenn sie überzeugend ausgeführt wird, stets einen großen Reiz. So ist es in diesem Fall, und nicht nur Griesgrämigkeit ist es, die aus der Erzählerin spricht, sondern Wut, gepaart mit scharfer Beobachtungsgabe und Intelligenz: Es wird gewütet und gezetert, geätzt und schikaniert, rumort und lamentiert, dass es eine wahre Freude ist.

Zielscheibe der Angriffe sind der sein Land eisern in Schutz nehmende Apostoloff, die sich selbst und allen anderen gefallende Schwester, vor allem aber der tote Vater und sein den Beschreibungen zufolge ziemlich verrottetes Land: „Schwarzmeerküste, das klingt doch nach Meeresrauschen, Möwen, Dünen, nach Strandcafés, dümpelnden Bötchen, klickenden Jachtmasten, und etwas weiter weg, schon nicht mehr in Bulgarien, nach Ovid? Ach was. Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer – leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch. Bulgarische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme.“ Und so geht das immer weiter.

Manchmal hat man das Gefühl, man befinde sich in jenem „Land des schadhaften Lächelns“, das ein fiktiver und ungeheuer komischer Reiseführer vor einigen Jahren einmal entwarf. Alles und jeder wird dieser großen Vernichtungs- und Wortmaschinerie unterworfen: „Apostoloff“ ist ein Buch der Desillusionierung und der verzweifelte Versuch, eine Familienleerstelle zu füllen.

Sibylle Lewitscharoff ist eine Schriftstellerin, die nichts dem Zufall überlässt, und so ist auch dieser Roman ein sorgfältig gebauter Text, in dem der Redestrom immer wieder durch sicher gesetzte Pointen unterbrochen wird und in den auf subtile Weise auch eine religiös-ikonografische Ebene eingearbeitet ist. Gerade wenn es um die Rekonstruktion der bulgarisch-deutschen Familiengeschichte geht, finden sich verblüffend treffende Charakterstudien. Da gibt es den bulgarischen Großvater, von dem es stets hieß, er habe eine Musterehe geführt, die in Wahrheit auf gegenseitiger Erniedrigung und Demütigung aufgebaut war. Da gibt es die Kolonie der Stuttgarter Bulgaren mit ihren Existenzen zwischen mondänem Leben und bürgerlicher Verankerung. Und da gibt es nicht zuletzt auch die verwitwete schwäbische Mutter.

Über diese Mutter heißt es: „Noch im hohen Alter hatte sie Alpträume vom Schlitzen und Erhängen, Erhängen und Schlitzen, unwirksam bekämpft mit viel zu vielen Schlaftabletten. Sie lebte in Kälte, Ordnung, Sauberkeit, mit achtzig Zigaretten am Tag (immer gut gelüftet, Kippen sofort entsorgt), tadelloser Kontoführung und einer unbändigen Wut auf Jesus Christus.“

Das ist schon großartig bösartig gesehen. Derlei sprachliche Virtuosität birgt stets die Gefahr der Selbstgenügsamkeit in sich. Doch das ist ein Vorwurf, der „Apostoloff“ an nur wenigen Stellen zu machen ist („Etwas Empörtes war ihm ins Gesicht geschrieben, eine Tumultbereitschaft, die nicht zum Ausbruch kam, sondern im kleingefurchten Zickzack seines Faltennetzes verzitterte“). Davon abgesehen jedoch hat Sibylle Lewitscharoff einen mitreißenden Roman geschrieben; eine schräge Komödie mit Zügen ins Groteske; angesiedelt zwischen Theologie und brachialem Realismus, ausgestattet mit einer Erzählerin, die Trauer und Trauma in Wut und Verachtung ummünzt.

Hier redet jemand mit Verve gegen das eigene Unglück an, anstatt es psychoanalytisch zu bewältigen: „Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten, denke ich, nur ein gutmütig gepflegter Hass.“

Fotohinweis:Sibylle Lewitscharoff: „Apostoloff“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2009, 248 Seiten, 19,80 Euro