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Archiv-Artikel

Abschied in die Lautlosigkeit

Keine neue Liebe und keine Lust der Freiheit kann den Zusammenhang zwischen uns und dem Hergang der Welt zerreißen: Julia Schoch schreibt einen leisen Roman über ein zerbröseltes Land und ein zerbröseltes Leben – „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“

VON JOCHEN SCHIMMANG

„In der Erinnerung leben die Kinder wie elternlos in der Siedlung. Ihre Verbindung hinauf in die Wohnungen ist das Schreien, das zurückhallt von den Wänden der Wohnblocks. Die Kinder schreien, anstatt die Treppen zu benutzen. Sie rufen nach den Müttern, manchmal wie in Trance stehen sie, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen, und hören nicht auf zu rufen. Nach Schlüsseln, belegten Broten, irgendeinem Spielzeug, bis in den Fenstern Arme erscheinen und das gewünschte Ding vor die Füße der schreienden Kinder werfen.“

Eigentlich möchte ich so fortfahren und nur immer weiter aus Julia Schochs Roman zitieren, allein deshalb schon, weil sich hier auf 150 Seiten die treffsicheren Sätzen und die stimmigen Bilder so sehr häufen, dass man als mitgehender Leser Angst bekommt, die Autorin könne dann doch irgendwo abstürzen. Zum Glück erweist diese Angst sich als unbegründet.

Aber ich fange noch einmal an. Eine Frau hat sich das Leben genommen, in einem New Yorker Hotelzimmer, mit Tabletten, und ihre Schwester versucht, den Weg bis zu dieser Tat zu rekonstruieren. Die Frau hatte in einer Garnisonsstadt im östlichen Mecklenburg gelebt, nahe dem Stettiner Haff, einer Stadt, die eigentlich erst im Gefolge der Ansiedlung der Nationalen Volksarmee eine solche geworden ist oder, genauer, versucht hat, eine solche zu werden. „Die Kinder sind mit den Frauen gekommen, die Frauen sind ihren Männern gefolgt, die Männer einem Befehl.“ Damals, in der DDR, hat die Schwester (die wie die Erzählerin keinen Namen hat, so wie der Soldat immer der Soldat heißen wird, auch als er es längst nicht mehr ist) eine Liebesbeziehung zu einem Soldaten begonnen. Der Soldat „hatte sich an ihren Körper geklammert wie an eine Rettungsboje“. Später, kurz vor dem Verschwinden ihres Staates, heiratet sie, und als der Staat zerbröselt, bekommt der Ehemann das Optikergeschäft seiner Familie zurück. Kinder gibt es auch. Die junge Frau fühlt sich aber in gewisser Weise um die Zukunft, die für sie vorgesehen war, betrogen: „Dadurch, dass die Geschichte dieses Staates nicht zu Ende gegangen, sondern abgebrochen worden war wie eine festgefahrene, unerträgliche Schulstunde, war es möglich, sich eine andere Vergangenheit auszumalen, die stattgefunden hätte, wenn diese Schulstunde, das Experiment weitergelaufen wäre. […] Fast war es enttäuschend, dass einem der Lebensplan, der schon geschrieben gestanden hatte, nun zum Eigengebrauch zurückgegeben war.“

Diesen Bruch muss man im Hinterkopf haben, wenn der alte Liebhaber wieder auftaucht und die beiden eine Affäre beginnen, die sie nie so nennen werden. Das Gefühl der Verliebtheit von damals ist „schon seltsam altmodisch geworden […], wie alles, das sie in der anderen, untergegangenen Gesellschaft erlebt hatte.“ Viele Familien sind inzwischen weggegangen aus dem Ort, der keine Funktion mehr hat, viele Frauen haben ihre Männer verlassen, diese traurigen Offiziere, deren Zeit, „die Zeit der alten Kämpfe, ihres Dienstes“ vorbei ist. Vom Ort, wie er einst war, sind nur noch halb leere Plattenbauten übrig, nichts Leuchtendes mehr wie in diesem Bild: „Meine Schwester weckte mich auf. Sie stand am Fenster und sah in die Nacht hinaus, dorthin, wo die Landschaft an die Siedlung grenzte, hinter der Landschaft die Kasernen. Sie rief mich, leise, aber bestimmt, und wies auf die Leuchtraketen, rotgrüne Signalkugeln, die in den Himmel hinaufgeschossen wurden und langsam niedergingen überm Wald. Sie hob mich hoch, damit ich die Schönheit dieses Anblicks begriff. Die Schönheit dieses allabendlichen, lautlosen Feuerwerks. Es ist etwas Seltsames an diesem Ort, an dem der Krieg so friedlich erscheint.“ Ja, möchte man bei diesen Sätzen mit Benn rufen: „Nichts Träumerischeres als eine Kaserne!“

Davon ist nichts geblieben, und viele gehen. Die Schwester aber bleibt im Ort, hingegeben an die Routine des Geschäfts und der Familie. Sie ist auf Ordnung bedacht und lässt sich nichts durchgehen, außer diesen Treffen mit dem „Soldaten“, der inzwischen zwei Pfandleihanstalten managt. Liebesakte im Auto oder in den Feldern, dann wieder braves Familienleben im Einfamilienhaus aus Fertigteilen.

Selbst der Abschied vom „Soldaten“ wird gründlich vorbereitet und durchgeführt, so muss man wohl sagen. Beim „letzten Mal“, von dem der Soldat nicht weiß, dass es das letzte Mal ist, geht es ins Hotel. Dann kommt die erste und einzige große Reise, nach New York und in den Tod. „Ohne Geräusch. Es geschieht zwingend. Genau wie der Schlaf für einen Übermüdeten das einzig Mögliche ist.“

Dies ist ein leiser Roman. Den Metaphern des Lautlosen, Geräuschlosen, die ihn unauffällig durchziehen, korrelieren die präzisen Bilder. Darauf versteht sich die ehemalige Filmvorführerin Julia Schoch exzellent. „Aber vielleicht gibt es da keinerlei Zusammenhang. Zwischen uns und dem Hergang der Welt“, heißt es an einer Stelle. Doch, den gibt es, und Julia Schoch weiß das ganz genau. Sie weiß auch, dass dieser Zusammenhang immer ein gewaltsamer ist und dass nichts ihn zerreißen kann, „nicht eine neue Liebe, auch kein Plan zum Fortgehen, ja: nicht einmal die Lust der Freiheit“. Ein todtrauriges, ein überaus schönes Buch.

Fotohinweis:Julia Schoch: „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“. Piper Verlag, München 2009, 150 Seiten, 14,95 Euro