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Archiv-Artikel

Der Amoklauf des Tim K.

Der ehemalige Realschüler tötet neun Schüler, drei Lehrer und drei Passanten - und stirbt nach Schießerei mit Polizei

DIE BLUTIGSTEN MASSAKER AN SCHULEN UND UNIVERSITÄTEN

11. März 2009, Deutschland: Ein Amokläufer tötet in Baden-Württemberg 16 Menschen und wird erschossen. 23. September 2008, Finnland: Ein 22-jähriger Mann tötet 10 Menschen in einer Berufsschule in Kauhajoki im Nordwesten Finnlands. Anschließend schießt er auf sich selbst und erliegt wenig später seinen Verletzungen. 14. Februar 2008, USA: Ein ehemaliger Student tötet an der Northern Illinois University fünf Menschen und verletzt 18, bevor er sich das Leben nimmt. 7. November 2007, Finnland: In Jokela erschießt ein 18-jähriger Jugendlicher acht Menschen, darunter sechs Mitschüler, bevor er die Waffe gegen sich selbst richtet. 16. April 2007, USA: An der Technischen Universität von Virginia erschießt ein Mann 32 Menschen und verletzt 15, der folgenschwerste Vorfall dieser Art in der Geschichte der USA. 20. November 2006, Deutschland: In Emsdetten eröffnet ein 18-jähriger Jugendlicher das Feuer in seiner ehemaligen Schule. Mehrere Menschen werden verletzt, bevor der Täter Selbstmord begeht. 2. Oktober 2006, USA: Der Fahrer eines Lieferwagens eröffnet in Pennsylvania das Feuer im Klassenzimmer einer Schule der Amish, einer christlichen Religionsgemeinschaft. Fünf Mädchen werden getötet, fünf verletzt. 21. März 2005, USA: Ein 16-jähriger Oberschüler erschießt fünf Schüler, einen Lehrer und einen Wachmann an einer Schule in einem Indianer-Reservat in Minnesota. Er tötet zudem seinen Großvater und dessen Freund. 26. April 2002, Deutschland: In Erfurt erschießt ein 18-jähriger ehemaliger Gymnasiast an seiner alten Schule 16 Menschen, bevor er Selbstmord begeht. 19. Februar 2002, Deutschland: Im bayerischen Freising erschießt ein Schüler nach dem Rauswurf aus einer Wirtschaftsschule drei Menschen und tötet sich anschließend selbst. 8. Juni 2001, Japan: Ein Mann ersticht an einer Grundschule nahe Osaka acht Kinder. 20. April 1999, USA: An der Oberschule von Columbine in Littleton in Colorado töten zwei Jugendliche zwölf Mitschüler und einen Lehrer, bevor sie sich selbst erschießen. RTR

WINNENDEN/BERLIN taz/dpa/rtr/ap ■ Bei dem Amoklauf des 17-jährigen Tim K. in der baden-württembergischen Kleinstadt Winnenden sind 16 Menschen getötet worden, darunter der Täter selbst. Nach Angaben der Polizei betrat der Amokläufer um 9.30 Uhr die Albertville-Schule und eröffnete das Feuer. Der ehemalige Schüler der Realschule erschoss neun Schüler und drei Lehrer.

Auf seiner Flucht tötete Tim K. drei weitere Menschen. Er flüchtete zunächst zu Fuß in die Innenstadt, wo er auf zwei Passanten schoss. Einer davon wurde getötet. Später zwang der Amokläufer einen Mann, gemeinsam mit dessen Auto zu flüchten. Auf der Autobahn bei Wendlingen (Kreis Esslingen) ließ er den Wagen und den Fahrer zurück und ging zu Fuß in ein nahe gelegenes Autohaus. Dort versuchte er, ein Fahrzeug in seine Gewalt zu bekommen, und erschoss dabei einen Kunden und einen Angestellten. Als er das Gebäude verließ, eröffnete er das Feuer auf die Polizisten und verletzte zwei Beamte schwer. Wie am Abend aus Sicherheitskreisen verlautete, wurde der junge Mann von einem Polizisten am Bein verletzt. Daraufhin soll sich der Amokläufer selbst in den Kopf geschossen haben. Zunächst hatte die Polizei erklärt, der Todesschütze sei von einem Beamten erschossen worden.

Tim K. stammte aus Leutenbach im Rems-Murr-Kreis in der Nähe von Winnenden. Er hatte auf der Albertville-Schule 2008 seinen Abschluss gemacht. Über sein Motiv gab es zunächst keine Erkenntnisse. Nach Angaben von Baden-Württembergs Kultusminister Helmut Rau handelte es sich bei Tim K. um einen „völlig unauffälligen“ ehemaligen Schüler. Tim K. habe nach der mittleren Reife eine Ausbildung begonnen.

Ein ehemaliger Mitschüler beschrieb Tim K. als Außenseiter und Fan von Computerspielen. „Er hat schon ziemlich früh mit diesen kleinen Spielpistolen, Soft-Air-Waffen nennt man die wohl, rumgeschossen und hat von denen recht viele zu Hause gehabt“, sagte der Klassenkamerad Mario H. dem Radiosender Antenne Bayern. „Ich hatte jedes Mal das Gefühl, dass er von seinen Eltern alles erlaubt bekommt.“

Die Tatwaffe, eine großkalibrige Pistole, hatte der Jugendliche nach Angaben von Polizeipräsident Konrad Jelden aus seinem Elternhaus. Der Vater von Tim K., ein angesehener Unternehmer, ist Mitglied eines Schützenvereins und besaß legal 16 Waffen. Eine dieser Waffen wurde bei einer Hausdurchsuchung nicht gefunden. Der Täter habe zudem 50 Schuss Munition mitgenommen, sagte der Polizeipräsident.

Die Albertville-Realschule ist zusammen mit einem Gymnasium in einem Schulzentrum in Winnenden untergebracht. Auf beide Schulen gehen insgesamt 1.700 Schüler. Das Schulzentrum wurde von der Polizei geräumt. Die Schüler wurden medizinisch und psychologisch betreut. Rund 1.000 Polizisten, Notärzte und Rettungskräfte waren im Einsatz. Landespolizeipräsident Erwin Hetger erklärte: „Es war ein Amoklauf in Reinkultur. Er ist mit einer Waffe in die Schule rein und hat dann das Blutbad angerichtet.“

Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) sprach den Angehörigen und den Schülern und Lehrern sein Mitgefühl aus: „Baden-Württemberg ist tief getroffen.“ Diese Tat habe ein Ausmaß, das das Land bisher nicht gekannt habe. Bundespräsident Horst Köhler sagte: „Mit Entsetzen und Trauer haben meine Frau und ich von dem Amoklauf in Winnenden erfahren. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Familien. Wir fühlen uns mit ihnen in diesen schweren Stunden verbunden.“ Kanzlerin Angela Merkel erklärte: „Es ist ein Tag der Trauer für ganz Deutschland.“

Zugleich begann gestern bereits eine Debatte über die Konsequenzen des erneuten Amoklaufs an einer deutschen Schule. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) regte „Erziehungspartnerschaften“ zwischen Schulen und Eltern an, um gemeinsam „solche schrecklichen Ereignisse im Vorfeld zu erkennen und abzuwenden“. Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, Konrad Freiberg, sprach sich für elektronische Einlasskontrollen am Schultor aus, damit während der Unterrichtszeit „nicht jeder x-Beliebige in eine Schule laufen“ könne.