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Archiv-Artikel

Ein Lauf, der Leben bewältigt

Ingrid Remke ist Opfer des Terroranschlags auf Bali, bei dem ein Drittel ihrer Haut verbrannte. Überlebt hat sie nur, weil sie zuvor beim Berlin-Marathon gestartet war. Nun tut sie es wieder

von CHRISTOPH BERTLING

Noch immer gleicht Ingrid Remkes Rücken einer Mondlandschaft. Große Narben und dunkelrote Hautpartien durchziehen ihn wie Krater einen fremden Planeten. Die junge Frau weiß: Spätestens wenn sie am Sonntag vor der Siegessäule, im Startbereich des 30. Berliner Marathons, ihre Trainingsjacke auszieht, werden die Blicke der anderen Starter auf ihren Schultern lasten. Zu frisch sind ihre Verbrennungen, von dem Anschlag, der ihr Leben veränderte. Ein Drittel ihrer Haut ist verbrannt. Wie kleine Hügel durchpferchen transplantierte Hautplatten ihren Rücken. Es sind die letzten Spuren des Anschlages, der die Welt erschütterte; ein Attentat, das Remkes Leben mit einem Schlag verändert und ihr ein Schicksal aufgebürdet hat, das sie nur mit ihrer eigenen Therapie zu bekämpfen vermag: dem Laufen. Ingrid Remke sagt: „Der Berliner Marathon hat mir mein Leben gerettet.“

Deshalb stört es die 35-jährige Frau auch nicht, für kurze Zeit im Mittelpunkt zu stehen – wegen der Narben. Im Gegenteil: Die Blicke werden ihr bei ihrer ersten großen sportlichen Aufgabe helfen, das Trauma zu verarbeiten und dem Schrecken weiter zu entfliehen. „Auch wenn ich eigentlich kein Mensch bin, der die Aufmerksamkeit liebt.“

„Letztes Jahr lief ich auch in Berlin“, erzählt die junge Frau. Dennoch kommt es ihr vor, als sei nicht ein Jahr, sondern Jahre vergangen, seit sie durch Berlins Straßen lief. Damals wollte sie bei ihrem dritten Marathon die Vierstundenmarke endlich knacken – heute rennt sie nur noch gegen ihr eigenes Schicksal an. Ihr Hobby ist ihr zur Lebensbewältigung geworden.

Es geschah in Bali, eine Woche nach dem Marathon in Berlin. In einer lauen Sommernacht stand Ingrid Remke in der Diskothek „Sari-Club“ auf der Flaniermeile Legianstraße in Kuta. Bis „ein riesiger Feuerball durch die Bambusstäbe der Kneipe“ brauste. „Ich dachte, es wäre ein Feuerwerk“, erinnert sie sich. Doch noch bevor sie begriff, dass dem nicht so war, war die zweite Bombe detoniert. Keine 20 Meter entfernt von ihr. Der größte Terroranschlag seit dem 11. September hatte gerade seinen blutigen Verlauf genommen – und sie stand mittendrin. Über 180 Menschen riss die Bombe radikaler Islamisten in den Tod, viele weitere liefen blutüberströmt über die Straße. Unter ihnen auch die junge Frau aus Berlin. Während ihre drei Freundinnen der Bombe zum Opfer fielen, war sie nach draußen getorkelt und von einem Fremden auf einem klapprigen Motorrad aufgegriffen worden. Auch ihr Leben stand auf der Kippe; die Bombe hatte ihre Trommelfelle zerfetzt, ihr Schlüsselbein zertrümmert und ihren Oberkörper verbrannt. Die Krankenhäuser in Bali waren auf solch schwere Verletzungen nicht eingerichtet.

Wenn Ingrid Remke an diesem Sonntag beim Berliner Marathon startet, werden nur noch die Narben und Transplantationsplatten zu sehen sein; wie ein zu kurzes Hemd werden sie sich über ihre Haut spannen. Ein Hemd, das von Schritt zu Schritt in Berlins Straßen immer enger werden wird – und das sie dennoch nicht abstreifen kann. Ihre Haut ist verklebt. Manchmal kommt sie sich beim Laufen deshalb vor wie ein Boxer, der zum Gewichtsverlust eine zugeschnürte Tüte um seinen Oberkörper bindet. Die fremde Haut, die ihr an den Stellen der Verbrennung eingepflanzt wurde, kann nicht atmen. Und dennoch kann sie das Laufen nicht lassen. Sie weiß, dass ihr diese Leidenschaft das Leben gerettet hat.

Bewusst wurde ihr dies in Australien, wo sie, wie die meisten deutschen Anschlagsopfer, weiter behandelt wurde. Ein Arzt trat an ihr Bett und offenbarte ihr: „Ohne ihre körperliche Konstitution hätten wir nichts für sie tun können.“ Der niedrige Ruhepuls und das sauerstoffdurchtränkte Blut haben sie gerettet. Eine Woche vor dem Anschlag war sie ja noch den Marathon gelaufen. Deshalb wiederholt sie noch einmal: „Der Berlin-Marathon hat mein Leben gerettet.“

Laufen, da ist sie sich sicher, nur mit Laufen wird sie es wieder schaffen. Deshalb wird sie auch am Sonntag die Blicke auf ihren Rücken weit hinter sich lassen. Die Laufstrecke führt an ihrer kleinen Wohnung vorbei, wo sie Abends ihre vierte und wohl wichtigste Teilnehmermedaille über dem Sofa aufhängen wird. Eine Woche später fliegt Ingrid Remke nach Bali.