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Archiv-Artikel

Jukebox

Auch der Balkan ist nur Empfindungssache

Wenn man zum Beispiel die milchverarbeitende Industrie nimmt. Als Faustformel darf hier gelten, dass je weniger eine wirkliche Hand in den Milchdurchfluss hineinpfuscht, bei den Werbemaßnahmen umso sicherer ein Bild von Milch in urwüchsigen Bottichen ausgemalt wird. Bestimmt steht ein zauselbärtiger Senn daneben. Als ob man noch nie etwas von Pasteurisieren gehört hätte, während früher jede Landmolkerei noch stolz den Kauf eines neuen Kühlaggregats angezeigt hat. Heißt: Don’t believe the hype. Nie nicht.

Eine Ausfahrt vor kurzem nach Sarajewo führte mich also auch in das dortige Casino Colosseum. Da zahlt man den Eintritt und bekommt ihn gleich wieder in voller Höhe zurück, in Form von Spielchips, die man wieder in echtes Geld umtauschen muss, aber dafür gibt es das stattliche Buffet einfach, also ganz kostenfrei, während man das eingetauschte Geld gleich wieder verspielen darf oder eben auch nicht. So muss die Wirtschaft auf dem Balkan ja in Schwung kommen. Jedenfalls schleichen derart viele Bedienstete durch das Casino, einer kommt in etwa auf jeden Gast. Was eine friedvolle Stimmung schafft.

Nun ist das Colosseum nicht nur ein Casino, sondern auch Restaurant und nicht zuletzt eine kleine Konzertarena. Die Stars des Balkans treten hier auf. Esma Redžepova war vor kurzem da, und an diesem Tag Boban Markovic mit seinem Orkestar. Was durch die Heimatklänge und den sonstigen Weltmusikfenstern auch hier in Berlin vertraute Namen sind, die man doch gern mal bei einem Heimspiel betrachtet. Die Band. Das Publikum. Die anfeuernden Bobele-Rufe Richtung Bühne. Und es war natürlich großartig, wie das Boban Markovic Orkestar durch sein Showprogramm stampfte. Als sei es eine Mariachi-Kapelle und gar kein serbischer Bläsertrupp. Der Balkan nur dezent. Überhaupt gab man sich internationaler und schaute sich musikalisch weltweiter um, als ich in Erinnerung hatte von den Berliner Konzerten der Band, die doch mehr nach Balkan klangen.

Was ich mal als die besonders ausgeprägte Dialektik der so genannten Weltmusik bezeichnen möchte. Echt ist recht. Das Echtere Empfindungssache. Wer trägt denn seine Tracht noch daheim bei sich zu Hause? Aber so lang es sich so toll anhört, soll mir das allemal recht sein. Das eine wie das andere. Sehnsuchtsvoller als auf dem Balkan kann Musik sowieso kaum sein. THOMAS MAUCH