Deutsche sind jetzt bereit, sich in Brandenburg nach Spargel zu bücken

Die Stimmung wird vielleicht besser, die Lage ist es nicht: 4,4 Millionen sind ohne Arbeit. Wer immer die nächsten Wahlen gewinnt, Regieren wird nicht besonders viel Spaß machen

BERLIN taz ■ Diese rot-grüne Erfolgsmeldung ist dazu gedacht, die Kritiker verstummen zu lassen: Noch bevor die Arbeitsmarktreformen namens Hartz IV starten, da wirken sie schon! Wie die Bauern berichten, sind jetzt auch Deutsche bereit, sich zu bücken. Neuerdings stammen die Erntehelfer nicht mehr nur aus Polen oder Tschechien. Für etwa fünf Euro pro Stunde kriechen auch Langzeitarbeitslose über die Felder.

Da macht Regieren doch wieder Spaß nach all dem Reformgemaule. Zumal auch der Einzelhandel meldet, dass sich immer mehr Überqualifizierte für schlecht bezahlte Jobs bewerben.

Zwei Nachrichten stören jedoch das schöne Bild vom Boomsektor Niedriglohn. Gestern meldete die Bundesagentur für Arbeit, dass im August 4.346.500 Menschen arbeitslos waren – lässt man statistische Tricks weg, dann sind das 110.200 mehr als vor einem Jahr. Und eine Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) warnte vor zwei Tagen vor den politischen Folgen von niedrig bezahlten Jobs: „Der wichtigste Faktor für nationale Zufriedenheit ist nicht die Einkommenshöhe, sondern das Ausmaß der Einkommenssicherheit und die Einkommensungleichheit.“

Falls die Wähler ökonomische Ungleichheit tatsächlich nur ungern tolerieren, dann wird es in den nächsten Jahren ungemütlich für deutsche Regierungen. Die SPD sollte sich nicht zu früh freuen, dass momentan ein erneuter Wahlsieg vielleicht nicht aussichtslos erscheint. Denn der Unmut an der Basis wird wachsen, weil die Reichen reicher und die Armen ärmer werden.

Da ist zunächst die wachsende Staatsverschuldung, die Zinslast steigt. Davon kann jedoch nur profitieren, wer genug Kapital besitzt, um es an den Staat zu verleihen.

Dieser Effekt wird – zweitens – noch verstärkt durch die Steuerreformen. Eigentlich hatte Finanzminister Eichel gehofft, dass sich die Milliardengeschenke allein finanzieren: Sie sollten einen Aufschwung auslösen, der wie von selbst mehr Steuern in die Staatskassen spült. Doch stattdessen stagniert der Binnenmarkt. Also muss der Staat weitere Kredite aufnehmen, um die Steuerausfälle zu kompensieren. Bizarre Konsequenz: Jetzt bekommen die Reicheren Zinsen dafür, dass sie dem Staat jenes Geld leihen, das sie sonst als Steuern hätten zahlen müssen.

Doch am gravierendsten ist der dritte Prozess: Meist liegt der Produktivitätsfortschritt über den Wachstumsraten. Gegen diese zunehmende Effizienz in den Betrieben und in der Verwaltung kann niemand etwas haben – beruht doch darauf der deutsche Exporterfolg. Allerdings bedeutet steigende Produktivität, dass stets weniger Arbeitnehmer gebraucht werden. Von dieser Kosteneffizienz profitieren die Unternehmen – und manchmal auch die Kunden. Viele Güter werden real billiger, ob Computer oder Handys. Aber diese Art der Deflation kann nur genießen, wer genug verdient. Und das werden weniger.

Faktisch, so ILO, liegt die Arbeitslosigkeit in der EU längst bei 12 Prozent, während die Statistiken nur die Hälfte ausweisen. Da hilft es wenig – obwohl es beliebt ist in Deutschland –, auf angebliche Musterländer zu verweisen und zu behaupten „Die haben es doch auch geschafft!“

Arm und Reich werden auch künftig auseinander driften. Statt diesen Prozess wenigstens zu entschleunigen, verstärken ihn die deutschen Parteien. Die Wähler reagieren eher instinktiv, sind „politikverdrossen“. Regieren wird einfach keinen Spaß mehr machen, auch nicht für die Union. ULRIKE HERRMANN