: Feindliche Übernahme
Hartmut ist die erste Liebe für Sofia. Ihr Pech, dass sie für das Studium nach Berlin zieht und Hartmut an eine andere verliert. Sofias Freundin Gitti ist viel pragmatischer. Sie will nach Frankfurt, eine bedeutende Kommunardin werden. Und der Weg nach Frankfurt führt direkt über Hartmut, den attraktiven Politaktivisten
von JASNA ZAJCEK
Kurz vor dem Abitur waren sie beste Freundinnen geworden. Sofia und Gitti fanden sich in einer Aktivistengruppe, in der sie sich leidenschaftlich gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen engagierten. Für Sofia, die Kleine, Zarte, war die schulische nicht die erste organisierte Friedensarbeit: Sie kannte den Geruch von Demonstrationen bereits aus ihrer Kindheit, denn die Eltern nahmen sie und ihre zwei jüngeren Schwestern schon früh zu ihnen mit und später auch zu den diversen Sitzungen bei Vereinen, für die sie ehrenamtlich tätig waren. Mit aktiver Politikarbeit hatten sie inzwischen abgeschlossen; Mutter und Vater erkannten seit der Geburt ihrer Kinder den Sinn, an der Verbesserung von Missständen im Alltag, im ganz Kleinen, zu wirken. So leitete Sofia, ihre älteste Tochter, schon vor dem Knospen der Brüste Naturschutzgruppen, trug eifrig Kröten über die Straße, sammelte Unterschriften gegen die Tötung von Robbenbabys und wurde – ausgerechnet auf Klassenfahrt! – minderjährig bereits einmal verhaftet, weil sie sich spontan bei einer Sitzblockade gegen Atomkraftwerke bis in die letzte Konsequenz solidarisch zeigte.
Wer Sofia und Gitti kannte, wusste, dass sie gegensätzlicher nicht hätten sein können, und wunderte sich über die in der Anti-Pershing-Gruppe geschlossene Allianz gegen das Übel dieser Welt. Denn Gitti, einziges Kind eines leidenschaftslosen Paares, befand es für sich im Alter von neunzehn Jahren en vogue, dort aktiv zu sein, wo die besten jungen Männer zu finden waren. Und in eben diesem letzten Abiturhalbjahr waren die Politischen, auch ein bisschen die Radikalen, für sie die erste Wahl. In ihrem von Mangel an Leidenschaft geprägten Leben transportierten intellektuelle Männer mit Zielen, die sie durchaus auch mit Gewalt durchzusetzen bereit waren, einen Hauch von fremdem Feuer, der sie faszinierte. Irgendwie wollte sie, mit ihrem guten Englisch, in die Welt hinaus und irgendwas in irgendwelchen Organisationen machen, in der solche Männer arbeiteten. Um ihnen nahe zu sein, um später den besten zu erwischen. So war ihr langfristiger Lebensplan. Kurzfristig, für die Zeit nach der Schule, schwebte Gitti, der Silhouette nach die Inkarnation eines Männertraums, ein Leben wie in der Kommune I vor, mit ihr in der Position der Uschi Obermayer. Wer Gitti, ihren weiblichen Gang und die relative Inhaltslosigkeit ihres Daseins zu diesem Zeitpunkt kannte, wunderte sich über das plötzliche politische Engagement, vor allem aber über die Freundschaft, die sie zur stillen und besonnenen Sofia zielstrebig aufbaute. Wer Gitti besser kannte – und das tat, außer ein paar Exfreunden in der Schulschwimm-AG, der Theater-AG und aus dem Chor, kaum jemand –, hätte sofort die Hintergründe erkannt.
In Gittis Kopf stand ihr Plan schon fest, nur Hartmut, der Schulsprecher und große Organisator, war noch nicht über sein Glück im Bilde. Er, dessen Gesicht und dessen kraftvoller Körper viel zu gut für die verwahrloste Hippiefrisur aussah, war Gittis Goldmund, ganz klar ihr Held, der sich in falschem Besitz befand. Denn liiert war Hartmut mit der kleinbrüstigen, sanften Sofia, seiner ersten großen Liebe, deren empfindsames Herz gegen Ungerechtigkeit rebellierte. Dies wiederum empfand Gitti als Ungerechtigkeit, denn in ihren Augen hatte nur sie ihn verdient. Als einziger aus der ganzen Gegend war er in Brokdorf mit dabei gewesen, bei den großen Ostermärschen, er hatte demonstriert, aktiviert, gestreikt und war dabei mehr als einmal von den bösen grünen Herren pöbelnd abtransportiert und in Gewahrsam genommen worden. Zum Studium wollte er nach Frankfurt ziehen, dort hatte er schon lange ein WG-Zimmer sicher. In Gittis Fantasie bedeutete das, noch vor dem Abitur: ihre erste, gemeinsame WG. Für sie war die lange und intime Freundschaft, die Hartmut und Sofia verband, schlichtweg nicht existent. Sie wollte eine WG, in der sie als Prinzessin zwischen dreitagebärtigen, sportlichen jungen Männern mit politischen Kontakten wohnen und begeistern würde. Nur musste sie Hartmut, den schönen Wilden, noch um den Finger wickeln und strategisch bedacht von ihrem Plan informieren. Bei all den unfrisierten jungen Frauen in der Gruppe schien ihr dies kein Problem, sie glänzte vor Witz und war so charmant wie nie zuvor. Für sie war Sofia, ihre neue beste Freundin, der Schlüssel zu diesem Mann.
Nächtelang bastelten Hartmut und Sofia, die Gründer der Gruppe, im Beisein von Gitti Pappraketen, um sie auf dem Marktplatz ihrer kleinen Gemeinde in Süddeutschland spektakulär, aber leider fast ohne Zuschauer verbrennen zu können. Überhaupt: Gitti war das letzte Semester bei allem dabei, auch wenn sie keine wirkliche Hilfe, aber immer sehr körperbetont gekleidet war, was Hartmut nicht entging. Ein wenig begann der Hochgewachsene mit Gitti, die seine Sofia um rund zwanzig Zentimeter überragte, zu flirten. Damals luden sie zu ihren Pappraketenstarts noch niemanden von der Presse ein. Als dieses Manko auffiel, empfing Gitti ihre Berufung. Zur Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei guten, wichtigen und später vielleicht auch reichen Organisationen. Andere die Arbeit machen zu lassen und selbst – vollkommen legitim – in der Öffentlichkeit zu stehen und stolz „wir“ und „ich“ zum Thema Weltverbesserung in Kameras sagen zu können, fand sie als Berufsidee vollkommen.
Tagelang diskutierte sie mit Sofia, möglichst im Beisein Hartmuts, über die Verwirklichung ihrer Ideen und über die konsequenteste Studienwahl – nicht zur Selbstverwirklichung, sondern um zu retten, was errettbar schien. Ihr gelang es sogar, die anderen vom Nutzen ihres Plans zu überzeugen, und gewann dadurch Vertrauen. Dass sie ebenfalls plante, nach Frankfurt zu gehen, ließ sie nur einmal betont leise im Nebensatz fallen, doch die Botschaft verfehlte ihr Ziel nicht. Hartmut fragte sie, ob sie denn schon ein Zimmer hätte, und bot an, in der WG für sie zu sprechen. So kam es, dass Gitti kurz nach dem Abitur all ihre kurzfristigen Träume verwirklicht sah: In einer schlampigen Studenten-WG mit dem Mann ihrer Träume wohnend und schlafend, mit ihm, der ihr bald noch höhere Aktivistenkontakte bescheren konnte, denn die Stimmung in seinem Umfeld kochte – man war dabei, eine neue, vielverspechende Partei zu firmieren. In dieser Partei schienen die Männer modern, intelligent und engagiert, also begehrenswert für Gitti.
Sie wollte dranbleiben, an Hartmut und an der neuen Politik, doch er hatte bald nur Interesse für all die anderen lockenden Tamara Bunkes, die die Frankfurter Szene zu bieten hatte. Daher ging ihre Milchmädchenträumerei nicht auf: Sie musste erfahren, dass nicht nur ihr Körper, auch ihre sich langsam verfestigenden Gefühle ausgenutzt wurden. Hartmut hatte die Trennung von seiner ersten großen Liebe, die unbedingt in der Mauerstadt studieren wollte und konsequent ihre Pläne verfolgte, nicht verkraftet. Sofia war nach Berlin gegangen und hatte sich zunächst für Jura entschieden, wechselte dann aber, ohne ihr Schicksal zu erahnen, zur Sonderpädagogik. Für Hartmut galt es, die Sensible durch das auf ihn immer ein wenig kaltherzig wirkende Revoluzzermodel Gitti zu vergessen.
Gitti verfolgte als „WG-Matratze“ (so sprach Hartmut über sie vor seinen Kumpels) den Plan, sich ihren Ruhm für ihre Ansätze zur Weltverbesserung noch in diesem Leben direkt im Licht der Öffentlichkeit zu holen. Sie studierte Publizistik und Anglistik und verließ Frankfurt und Hartmut so schnell es ging, im fünften Semester. Ein strategisch bedeutsamer Lover, der Tutor des begehrten US-Austauschprojekts, verhalf ihr dazu. Nachdem Hartmut Gitti in ihrem eigenen Zimmer (weil seins zu schmutzig war) mit einer blutjungen Aktivistin betrogen hatte – Gitti erkannte die Spuren des ersten Mals auf ihrem Bett –, wollte sie nur noch sterben und beschloss, erwachsen zu werden, ihr Leben nicht zwingend auf Männer wie Hartmut zu bauen.
Sie blieb lange in Amerika, die Oberflächlichkeit im täglichen Umgang lag ihr. Schon bald machte sie sich einen Namen in der internationalen Friedensarbeit, denn auch hier herrschten Männer, die sie zu manipulieren wusste, aber fortan, ohne ihr Herz zu verlieren. Die Karriere war ein Leichtes für die mittlerweile erblondete klassische Schönheit. Lange war sie in den USA tätig und verdiente dort bei der Organisation und der medialen Vermarktung von Friedenskongressen für die Szene untypisch viel Geld. Emotional erstarrte sie. Mit den Jahren empfand sie nur noch Liebe für sich selbst und begann, Männer wie jene, die ihr jahrelang nutzten, zu verachten.
Sofia machte unterdessen nach dem Diplom ihren steinigen, ehrlichen und engagierten Weg in der Sonderpädagogik. Sie arbeitete lange Zeit mit minderjährigen obdachlosen Heroinsüchtigen. Fast fünfzehn Jahre lang schien ihre Kraft für die Bekämpfung allen Elends auf den Straßen Berlins zu reichen, doch eines Tages lag sie antriebslos und depressiv darnieder – Diagnose: Burn-out-Syndrom. Lag es am Mangel an Liebe, die sie sich selbst versagte, um besser und vor allem: rund um die Uhr für die Notleidenden, die „ärmsten, unschuldigsten Opfer des Systems“, wie sie selbst zu sagen pflegte, da zu sein? Mehrere vielversprechende Beziehungen hatte sie stets in ihren Anfängen abgebrochen, da sie es als ungerecht empfand, ihre Liebe und Fürsorge den Bedürftigen nicht mehr in der reinen, vollkommen selbstlosen Form zukommen lassen zu können. Ihre Homöopathin empfahl nach dem Zusammenbruch die intensive Rückbesinnung auf Träume und Ziele, vor allem aber auch: auf den Körper und die Seele zu hören. Ihrem alten Mädchentraum – den sie bereits mit Hartmut träumte – folgend, kam nur Indien für sie in Frage. So begab sie sich auf ihre erste große Reise, da sie sich in ihrer freien Zeit bislang fast ausschließlich und aufopfernd um ihre geliebten, alten Eltern gekümmert hatte.
Indien schien ihr bereits direkt nach der Landung die beste Entscheidung ihres Lebens zu werden, schon auf dem Flughafen in Bombay konnte sie vom Geruch der Freiheit – der Freiheit von der schweren Verantwortung für andere – nicht genug bekommen. Nach einer langen Reise durch die bunte Welt der spirituellen Inspiration (ohne sich festzulegen, denn sie war überzeugte Atheistin) checkte sie in einem Ashram ein und wurde hier letztendlich von allem psychischen Leid erlöst. Nicht so sehr die meditative Lebensart, vielmehr das Aufflammen einer alten, für Sofia unvergessenen Liebe beflügelte sie und zauberte ihr Schmetterlinge in den Bauch. Hartmut, der Edle, Starke, war nach seiner Frankfurter Zeit trotz abgebrochenem Politologiestudium zu einer journalistischen Koryphäe im Bereich der internationalen Friedensarbeit geworden und besuchte diesen Ashram regelmäßig, immer, wenn er zwischen dem Verfassen von brennenden Friedens- und Antiglobalisierungsreden und -artikeln ein wenig Zeit für sich benötigte.
Obwohl er noch immer die schlecht sitzende Ökofrisur bei deutlich dünnerem Haupthaar trug und durch zu viel zu gutes Essen im Ansatz träge und verfettet wirkte, hatte er für sie nichts von der Faszination verloren, vor der sie damals nach Berlin geflohen war, damals, als sie sich nicht in egoistischer Liebe zu einem Menschen verfangen wollte. In dem Moment, als Sofia und Hartmut sich nach all den Jahren zufällig in Radschastan trafen, duftete die laue Luft nach Früchten, Blumen und Essenzen. Die leuchtenden Seidengewänder, die sie, die harten, aber ausnahmsweise perfekt entspannten Kämpfer für eine bessere Welt, umhüllten, strahlten im Kerzenschein des einfachen Lagers. Für beide schien „ihre neue Zeit“ der Höhepunkt ihres bisherigen Daseins, geheiligt dadurch, an diesem speziellen Ort ihre späte Bestimmung füreinander empfangen zu dürfen.
Vom ersten Tag an, als sie an der Wasserstelle ineinander liefen, hießen sie im Ashram nur noch die siamese twins, denn nichts mehr wollte Sofia ohne ihren Hartmut erleben, und vice versa, ganz so, als ob beide Angst hätten, ihren Seelenpartner noch ein zweites Mal im Trubel des Lebens zu verlieren, als hätten sie Angst, die ihnen verbleibende Zeit würde nicht reichen, um ohne einander Erlebtes zu erzählen und zu diskutieren. Sie heirateten gleich nach der Rückkehr in Deutschland, im kleinen Kreis, um ihre Zuneigung und Verehrung füreinander auf ewig zu besiegeln. Es sprach sich in der Szene herum, und selbst Gitti, die alte gemeinsame Freundin, gratulierte per Karte.
Hartmut, der aufgrund seiner internationalen Recherchen und Tätigkeiten mehr in Hotelzimmern als in seiner Junggesellenwohnung in Frankfurt wohnte, zog gerne in Sofias große Altbauwohnung nahe dem sozialen Brennpunkt Potsdamer Straße, in der die frisch Angetraute auch immer zwei warme Betten für gestrandete Kids bereitstehen hatte. Womit der erste, ernste Konflikt des unter Blumen beschlossenen gemeinsamen Lebens programmiert war: Zu Beginn war der Ehemann bewundernd, akzeptierte ihren auf Helfen ausgerichteten Lebensstil, doch als Sofia schwanger wurde, konnte Hartmut die verkrachten Gestalten, die zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit an der Tür nach einer Suppe, einem Bett, einer frischen Spritze oder Kondomen fragten, nicht mehr ertragen. Sofia, die seit der Liaison mit ihm wieder zu neuem Mut für ihren Job gefunden hatte, konnte seine hartherzigen Worte eingangs kaum verkraften, zog sich für die Zeit der Schwangerschaft – aus hygienischen Gründen, wie sie sich vor sich selbst verteidigte – von der Arbeit zurück. Da Hartmut gut verdiente, aber viel unterwegs war, beugte Sofia sich nach der Niederkunft ihres Sohnes Sid (Siddartha) dem eindringlichen Wunsch ihres Mannes, die Arbeit aufzugeben, und blieb ehrenamtlich, aber unregelmäßig für die Verlierer der Großstadt tätig. Gemeinsam mieteten sie sich ein kleines Häuschen im Außerhalb, im Grünen.
Als Sid in den Kinderladen ging, beschlossen sie, ein zweites Kind in die Welt zu setzen, denn Sofia ging mittlerweile voll in der Mutterrolle auf und fühlte zu den Zeiten, da Sid und Hartmut nicht im Hause waren, eklige kleine Anflüge von Leere in sich. Die Schwangerschaft verlief in Liebe. Als Edda, behindert mit dem Down-Syndrom, das Licht erblickte, begann die Mutter, sich nach den Gründen zu fragen, und verzweifelte schier an Selbstvorwürfen und konzentrierte all ihre Liebe und Fürsorge auf ihre Tochter. Die starke sexuelle Bindung, die sie mit ihrem Gatten seit der Zeit im Ashram verband, verlief sich in alltäglichen Ärgernissen. Auch hatte Sofia nach der zweiten, komplikationsreichen Geburt viel an weiblicher Faszination verloren, sie wirkte, obwohl noch immer eine attraktive Frau, für ihn ausgelaugt und grau. Hartmut, der vermutete, dass seine frühen Frankfurter Drogenexzesse schuld an der Behinderung seiner Tochter waren, zog sich aus unreflektiertem Schuldbewusstsein stark aus der Familie zurück, stürzte sich in die Arbeit bei einer neu aufkommenden französischen Antiglobalisierungsgruppe und flog zur Rettung des Klimas und der Menschenwürde kreuz und quer um den Planeten. Seinen Frust schlang er mit Delikatessen aller Art hinunter, wie ihm bald deutlich anzusehen war.
Es sollte nur eine Frage der Zeit werden, bis er bei einem dieser Kongresse auf seine alte „Matratze“ stoßen sollte, auf Gitti, der die vergangenen Jahre kaum anzusehen waren – weshalb er sie auch zunächst gar nicht erkannte. In einem Plenum, bei dem er als erster Redner angesetzt war, sah sie ihn wieder, ohne dass er sie sah. Was wohl aus ihm geworden sei, hatte sie sich oft gefragt, meist, als sie mit anderen bedeutenden Kämpfern für die Sache intim geworden war und Hartmut nie wirklich hatte vergessen können. Doch leider (Sprach er zu intellektuell oder zu realitätsbezogen?) wussten die jungen Aktivisten seine Rhetorik nicht zu würdigen und klatschten ihn ab. Welch demütigendes Erlebnis für ihn, der alles mit initiiert und begonnen hatte, sein Leben in den Dienst der Sache gestellt hatte und immer noch ein guter Mensch zu sein schien! Mehr noch als Mitleid aber empfand sie Schadenfreude, denn Demütigung hatte auch Gitti erlitten, nach seiner Heirat mit Sofia, die sie als Zeichen deutete, dass Hartmut sie niemals geliebt haben könne.
Nach seinem guten, aber unverstandenen und daher peinlich wirkenden Auftritt und sechs weiteren Redebeiträgen begann die zähe basisdemokratische Diskussion, es ging um eine Aktion, die durch Überklebung von Produktlogos in Supermärkten in ganz Europa für Schlagzeilen sorgen würde. Gitti verließ den Saal, um sich kurz zu besinnen. Von Hartmuts äußerlicher Attraktivität war nicht viel mehr als das Funkeln in den Augen übrig geblieben. Sie spürte kein körperliches Verlangen mehr nach diesem Mann, dem ersten, der sie durch gezielte Technik nach Haschischbeigabe zu einem ihrer seltenen vaginalen Orgasmen geführt hatte. Eine Rechnung hatte sie mit ihm – und auch mit Sofia – offen. Demütigung verlangte, beglichen zu werden; zudem hatte sie keine Lust, diesen großartigen Rhetoriker, der fest in der Crème des internationalen intellektuellen Aktivismus verankert war („die Kontakte!“), mit der langweiligen Sofia alt und fett werden zu lassen.
Sie beschloss, späte und nachhaltige Rache zu üben. Beim Mampfmobil, von Studenten ehrenamtlich organisiert, wartete sie auf das Ende der Diskussion. Wie sie seinem verwahrlosten Körper nach vermutet hatte, zog es ihn nach dem Plenum sofort zur Fressstation. Sie versteckte sich hinter einem Transparent und beobachtete ihn aus sicherer Entfernung, Pläne schmiedend. Aufgrund ihres – in Anbetracht der Jahre und im Vergleich mit ihm – blendenden Aussehens, fühlte sie sich überlegen. Selbstsicher. Wollte ihn beim Essen überraschen, schutzlos, unbefangen, in einem Moment, in dem er eher seiner heimlichen, einsamen Lust als dem Gefühl des Hungers nachging. Wie hatte er sich bloß so gehen lassen können, fragte sie sich. Im nächsten Moment bedachte sie, dass Sofia ihn absichtlich falsch bekochte, damit er seine einst überdeutliche Attraktivität für andere Frauen verlöre. Seinem Äußeren entsprechend, hatte er, wenn er denn kein feuriges Pamphlet vortrug, an Selbstsicherheit eingebüßt. Nun flirtete sie ihn unmissverständlich an.
Mit den aufmunternden Blicken der fremden jungen Frau konnte Hartmut zunächst nichts anfangen. Zum einen wusste er sie nicht einzuordnen, zum anderen hatte ihn lange schon keine Frau mehr offensichtlich begehrt. Nach der Geburt von Edda hatte er mit dem Sex abgeschlossen, schließlich war er mit einer von ihm in noch irgendeiner Weise geliebten, aufopferungswilligen, etwas zermürbten und viel zu früh ergrauten Mutter verheiratet, die nur noch ihr behindertes Kind zu umsorgen pflegte. Gitti erkannte er, als sie forsch auf ihn zuging, an ihrem über die Jahre gleich gebliebenen, weiblichen Gang, sie, die damals wie jetzt stets ein wenig zu hohe Stiefel trug, um eine wahre Aktivistin zu sein. Nach einem großen Hallo und kurzem Abklopfen der Biografie gewann der dickliche Mann wieder ein wenig Attraktivität in Gittis Augen, denn zumindest hatte seine Sprache nichts von dem einst sie Begeisternden verloren, und immerhin vertrat er seine politische Meinung in drei Sprachen, über den Globus verteilt. Beide beschlossen, ihr Wiedersehen gebührend zu feiern und auf alte Zeiten anzustoßen. Ihrem Alter und ihren guten finanziellen Situationen angemessen, begingen die zwei ihr Wiedersehen in einer edlen Bar fernab des Camps.
Hartmut war beeindruckt von der selbstsicheren, präsenten, weltgewandten und gepflegten Frau. Er erschrak sehr heftig über sich selbst, als er sich dabei ertappte, sie Sofia im Vergleich damals – heute gegenüberzustellen. Ob Gitti, trotz des damaligen Mangels an Verliebtheit, nicht doch die bessere Wahl gewesen wäre, ob die Geburt des behinderten, ihn psychisch belastenden Kindes gar hätte verhindert werden können, überlegte er in der selben Sekunde, in der er begann, sich für diese Gedanken zu schämen. Dummerweise war er bereits betrunken genug, um diese schändliche Eingabe in einem Anflug von vermeintlicher alter Vertrautheit seinem Gegenüber auszuplaudern. Gitti wusste ihre alte Rivalin im Spiel, Ehrgeiz begann in ihr zu brodeln, und es durchzuckte sie, ihre weitere Karriere mit diesem Mann an ihrer Seite führen zu wollen. Und wenn es sein musste, auch ihr weiteres Leben. Ihre aufkommende Besitzgier verführte sie zum Raspeln von viel zu viel Süßholz für die geschundene Männlichkeit Hartmuts – die Initiierung der spontanen Anmietung eines Hotelzimmers war für beide, kurz nach Mitternacht, nur logische Konsequenz.
Fasziniert von ihrem trainierten Körper unter der botoxgestählten Haut, gab Hartmut sich hin, und Gitti wandte Tricks und Kniffe im Bett an, die er nicht einmal aus seinen wenigen Besuchen in Freie-Liebe-Zentren im portugiesischen Alentejo kannte. Ausgehungert nach Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit schien die Nacht für ihn wie ein Rausch, wie eine zweite Sturm-und-Drang-Zeit, gar nicht vergleichbar mit der – im Nachhinein betrachtet – brav-romantischen Zeit der erwachsenen Harmonie mit Sofia, der mittlerweile von ihrem eigenen Helfersyndrom überwältigten Frau, wie Gitti ihm weiszumachen wusste.
Sie sah sich nicht in schlechtester Position. Immerhin konnte er es ihr immer noch so gut besorgen wie einst, wie kaum jemand sonst in den vergangenen zwanzig Jahren, und obwohl sie beim Sex die Augen schloss und von Hübscheren träumte, beschloss sie, diesen Mann fortan als den Ihren zu nehmen. Die restliche Zeit des Kongresses waren sie unzertrennlich, denn Gitti übernahm ausnahmsweise aufopferungswürdig die Funktion einer Assistentin, einer Hilfe, die er sich bislang trotz großen Arbeitsaufkommens nicht hatte leisten wollen. Im Gegensatz zur frühen ging die späte Milchmädchenrechnung durch gezielte, international erlernte Manipulation auf: Hartmut buchte seinen Heimflug um, folgte Gitti, die ihn durch ihre ungehemmte Art der Sexualität und der Hingebung hörig zu machen wusste, auf zwei Kongresse nach Amerika und ließ einen Topanwalt, auf Gittis Anraten hin, sein vorhergehendes Leben regeln.
JASNA ZAJCEK, 29 Jahre, Exredaktionsleiterin des Stadtmagazins Flyer , ist Berlinerin, Sexkolumnistin des Stadtmagazins 030 und freie Autorin