: Kollektiv in den Untergrund
In Italien wimmelt es von Genossenschaften, fast jeder Fünfte ist ein Mitglied, und inzwischen hat sich sogar eine Archäologie-Kooperative gegründet. In der Provinz Bologna gibt es das weltweit dichteste Netz von genossenschaftlichen Betrieben
von MICHAEL BRAUN
Eigentlich ein ganz normales Bild: In der Baugrube, mitten in Florenz, wuseln ein paar Archäologen, hantieren mit Spateln, um Scherben freizulegen, die sie dann mit Pinselchen bearbeiten. Eine gewöhnliche Ausgrabung eben, Alltag in einer Stadt mit 2.000-jähriger Geschichte. Weniger gewöhnlich sind die Grabenden: Sie kommen von der „Cooperativa Archeologia“, der „Archäologie-Genossenschaft“. So ausgefallen das Beispiel klingen mag, so typisch ist es doch für die italienische Genossenschaftsbewegung. Es fällt schwer, Bereiche zu finden, in denen Genossenschaften nicht aktiv sind.
Genossen sind die Jungs im süditalienischen Maratea, die mit dem Verleih von Motorbooten an Touristen ihr Geld verdienen. Genossin ist die ältere Dame, die im sardischen Pula den von der Cantina sociale gekelterten Wein mit einem Tankstellen-Zapfhahn in Fünf-Liter-Butteln abfüllt. Genossen sind die vier römischen Jugendlichen mit Down-Syndrom, die in der von ihren Eltern mit gegründeten Kooperativ-Pizzeria „Il Girasole“ an den Tischen servieren. Genosse eines selbst verwalteten Betriebs ist auch der Klempner in Rom, der sich um meinen tropfenden Wasserhahn kümmert.
Ob die große Supermarkt-Kette Coop, ob Software-Schmieden, ob Bauunternehmen oder Textilfabriken: Mittlerweile knapp 170.000 Genossenschaften behaupten sich mittlerweile am Markt. Von 57 Millionen Italienern sind 10 Millionen Genossenschaftsmitglieder, 5 Millionen allein bei Coop. Eine Million Menschen – knapp 5 Prozent der Erwerbsbevölkerung – finden dort Beschäftigung und erwirtschaften gut 6 Prozent des italienischen Sozialprodukts.
In bizarrem Kontrast dazu steht die Tatsache, dass in Italien selbst niemand so recht die wirkliche Verbreitung der genossenschaftlichen Betriebe mitkriegt. Eine von einem Genossenschaftsverband in Auftrag gegebene Studie ermittelte unlängst, dass den Italienern bei dem Stichwort eigentlich nur die Coop-Supermärkte einfallen, kaum je aber die Myriade von kleinen Klitschen im produzierenden Gewerbe oder im Dienstleistungssektor. In der öffentlichen Wahrnehmung präsent sind eigentlich nur die Kooperativen in den roten Regionen Nord- und Mittelitaliens. Dort nämlich, in der Emilia-Romagna, in der Toskana, in Teilen der Lombardei, sind sie einfach nicht zu übersehen. Allein in der Provinz Bologna verdienen rund 60.000 Leute ihr Geld bei Kooperativen. Weltweit gibt es keine andere Region, die ein vergleichbar dichtes Netz genossenschaftlichen Wirtschaftens besitzt.
Vor allem die „Cooperative Rosse“ die „roten“ Genossenschaften, die traditionell der KPI nahe standen, sind ein Machtfaktor in der Region. Ein traditionsreicher Machtfaktor, denn die Emilia-Romagna war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Wiege der politischen Linken, der Gewerkschaften und der Genossenschaftsbewegung. In einer Region, in der die große Industrie kaum präsent war und die meisten Bewohner sich als Landarbeiter verdingen mussten, schlossen sich schon bald Menschen zusammen, die die Arbeit in selbst verwalteten Betrieben erzwungener Arbeitslosigkeit vorzogen.
Die Linke hatte dort gleich drei Standbeine: die Sozialistische Partei, die Gewerkschaften und die Lega delle Cooperative (Legacoop), wie sich der Dachverband ihrer Genossenschaften nannte. Die konkurrierenden Katholiken organisierten sich hingegen in der Confcoop. Von Mussolini unterdrückt, erlebten die Kooperativen dann nach dem Zweiten Weltkrieg einen kontinuierlichen Aufschwung. 1948 schrieben die katholischen und die kommunistischen Verfassungsväter den Schutz der Genossenschaften in einem eigenen Verfassungsartikel fest; diverse koop-freundliche Gesetze folgten in den nächsten Jahrzehnten.
Genossenschaften sind noch heute weitgehend von den Unternehmenssteuern befreit. Mittlerweile braucht es nur noch fünf Mitglieder, um eine Cooperativa zu gründen. Und seit den Achtzigerjahren fördert der Staat die Überführung von Pleitefirmen in den genossenschaftlichen Besitz der Beschäftigten.
Beschäftigung – das war schon vor 140 Jahren und ist heute noch der Hauptgrund, der Menschen in Genossenschaften zusammenführt. „Zuerst mal ging's uns darum, Arbeit zu haben“, erklärt Fabio Faggella von der Archäologen-Genossenschaft aus Florenz, „und da ist für eine Gruppe frischer Uni-Absolventen mit wenig Geld die Genossenschaft der einfachste Weg.“ Ein Weg, der deshalb in den letzten Jahren gerade auch im Süden Italiens gern beschritten wurde: Die Regionen des Mezzogiorno stellen heute im Dachverband der „roten“ Kooperativen ein Drittel der Genossenschaften.
Und selbst die alteingesessenen Genossenschaftsriesen halten an alten politischen Ansprüchen fest. Zwar hing ihnen immer der Ruf nach, die „Geschäftemacher“ unter den Kommunisten zu sein. Man nannte sie „rechte Pragmatiker“, „Reformisten“ und „Sozialdemokraten“, lange bevor mit der Umgründung der KPI zur Partei der Linksdemokraten diese Schimpfwörter zu Ehrentiteln mutierten. Doch zugleich waren sie auch immer die Kommunisten unter den Geschäftsleuten, finanzierten mit dem „roten“ Versicherungskonzern Unipol oder der Coop die Festivals der Unità und füllten die Kassen der Partei.
Damit ist es heute vorbei – nicht aber mit dem Anspruch, immer noch ein wenig „anders“ zu sein als gewöhnliche kapitalistische Wirtschaftsbetriebe. Der gerade im Süden Roms neu eröffnete Coop-Discountmarkt bietet nicht bloß Waren, sondern Dienst am Bürger: einen Internetpoint und eine Bibliothek, einen Schalter des staatlichen Gesundheitsdienstes, an dem man einen ärztlichen Untersuchungstermin reservieren kann, und einen Schalter des Einwohnermeldeamtes. Die Coop-Supermärkte in der Toskana bemühen sich derweil um die Erziehung ihrer Kundschaft zum „bewussten Konsum“. Stichwörter der Kurse, durch die jetzt wieder im September hunderte Grund- und Mittelschullehrer geschleust werden und dort mit didaktischem Material versorgt werden, sind „Globalisierung“, „Nahrungsmittelsicherheit“, „Solidarität“ und „interkulturelles Zusammenleben“.
Dennoch mehren sich in den letzten Jahren gerade bei den Gewerkschaften Zweifel, ob die Genossenschaftler wirklich noch Genossen sind. Der große linke Gewerkschaftsbund CGIL ärgerte sich mit jenen vermehrt entstandenen Pro-forma-Genossenschaften herum, die vor allem dazu dienten, Arbeitnehmerrechte auszuhebeln. Der beschäftigte „Genosse“ ist ja formal gar kein Arbeitnehmer, weshalb ohne große Probleme tarifvertragliche und Arbeitsrechts-Bestimmungen umgangen werden konnten, bis eine Gesetzesänderung dem Missbrauch ein Ende machte. Ärger gab es auch mit der „roten“ Legacoop. Die hatte im letzten Jahr gemeinsam mit zahlreichen Unternehmerverbänden und den beiden kleineren Gewerkschaftsverbänden, der CISL und der UIL, jenen „Pakt für Italien“ unterzeichnet, gegen den die CGIL Sturm gelaufen war, weil der Pakt die Aufweichung des Kündigungsschutzes zum Ziel erklärte. Und der Krach der Gewerkschaft mit den Genossenschaften erreichte auch die tarifvertragliche Ebene: Im letzten Jahr wollte die Coop-Regionalgesellschaft aus Modena einen Haustarifvertrag durchsetzen, der Beschäftigte aus Tochtergesellschaften in Apulien von den in Norditalien gewährten betrieblichen Sonderzahlungen abkoppelte. „Wie Berlusconi“ seien die Coop-Manager, donnerte darauf der damalige CGIL-Vorsitzende Sergio Cofferati, und die Linksdemokraten von Modena verabschiedeten Resolutionen, mit denen sie die beiden ehrwürdigen Institutionen förmlich anflehten, doch Frieden zu schließen. Doch es bedurfte erst eines Streiks der CGIL gegen die Coop-Genossen, ehe mühsam ein Kompromiss gefunden wurde.
Ein paar Monate später allerdings war der Krach vergessen. Als die CGIL sich in der Irakkrise zur Vorreiterin der Friedensbewegung machte, war auch die Coop dabei. Quer durchs Land hing in den Supermärkten die Regenbogenfahne, an den Kassen lagen Anti-Kriegs-Flugblätter aus.
Unabhängig davon buddelt die „Cooperativa Archeologia“ weiter im historischen Untergrund von Florenz und singt ein Loblied auf die Genossenschaften: „Die solidarische Natur und das Fehlen einer rigiden Hierarchie“ in einem selbst verwalteten Betrieb, das sei doch einfach eine gute Sache, findet Fabio Faggella.