: Der Kampf gegen Gipsbrote
Am Anfang standen ein paar Säcke Mehl, die in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hungernde Engländer versorgen sollten – und damit begann die wechselvolle Geschichte der Konsum-, Kredit- und Produktivgenossenschaften
von UTE SCHEUB
Wann eigentlich beginnt die Geschichte der Genossenschaften? Manche behaupten: Schon in den Anfängen der Zivilisation, als die ersten Dorfgemeinschaften kollektiv säten und ernteten. Andere sagen: Im Mittelalter; das Wort ginosscaf gab es schon im achten Jahrhundert, Zünfte und Gilden funktionierten nicht viel anders als heutige Kooperativen. Wieder andere verweisen auf Fruchtvereine, Alp-, Mark- oder Deichgenossenschaften als Vorformen. Und noch andere spulen Namen herunter: Raiffeisen, Schulze-Delitzsch, die „redlichen Pioniere von Rochdale“. Und weil in einem Artikel ein Anfang gemacht werden muss, greifen wir jetzt das Stichwort Rochdale auf.
Am Anfang standen Säcke voller Mehl, das mit Gips vermischt war, Milch mit Wasser und Nudeln mit hohem Kreideanteil. Solche leckeren Rezepturen wurden Mitte des 19. Jahrhunderts in englischen Läden an die hungerleidende Bevölkerung verkauft – zu Wucherpreisen. Die englische Küche war schon immer schlecht, aber dieser Pansch war dann doch zu viel. 1843 entwickelten einige von dem sozialistischen Denker Robert Owen beeinflusste Männer im Örtchen Rochdale die Idee der ersten Konsumgenossenschaft. Mit ein paar Tüten Hafermehl – ohne Gips! – eröffneten „die redlichen Pioniere von Rochdale“ 1844 den ersten kleinen Laden. Jeder Kunde konnte Geschäftsanteile erwerben und hatte bei den Versammlungen eine Stimme.
Die Idee schwappte auf Kontinentaleuropa über, in deutschen Landen wurde die wohl erste Konsumgenossenschaft 1849 in Eilenburg gegründet. Sie ging als „Märtyrergenossenschaft“ in die Geschichte ein, weil sie vom Handel per Lieferboykott bekämpft wurde und nach drei Jahren dichtmachen musste.
Europa erlebte damals wüste Zeiten: Kartoffelfäule, Getreidemissernten, Hungersnöte, schließlich die gescheiterte Revolution von 1848. Die ehemals leibeigenen Bauern wurden frei, besaßen aber kaum Land, das Proletariat der Industrialisierung verdiente zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Der Gedanke der Genossenschaften wurde also aus der Not geboren, und zwar gleichzeitig an verschiedenen Orten. Vereinfacht gesagt entstanden in England vor allem Konsum-, in Deutschland Kredit- und in Frankreich Produktivgenossenschaften.
Im Westerwald war es der strenggläubige, konservativ-romantisch gesinnte Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der im Hungerwinter 1846/7 auf die Idee kam, einen „Brodverein“ zu gründen. Der damals 27-jährige Bürgermeister der Samtgemeinde Weyerbusch beantragte bei der preußischen Regierung Mehl aus staatlichen Beständen für die Armen, diese aber verlangte, das Mehl dürfe nur verkauft werden. Kurzerhand ließ Raiffeisen Brot in einer Gemeinschaftsbäckerei backen und an die Hungernden ausgeben; sie sollten erst nach dem Ende der Not zahlen. Die preußischen Halsabschneider bekamen ihr Geld aus einem Fonds, den die Reicheren seiner Gemeinde finanzierten. Der Ort blieb vom Hunger verschont.
Die Idee des „Brodvereins“ stand bei Raiffeisens späteren Gründungen Pate. Der „Flammersfelder Hülfsverein“ gewährte Bauern billige Darlehen; der 1864 gegründete „Heddesdorfer Darlehenskassen-Verein“ vergab ebenfalls Kredite und reinvestierte die Zinsgewinne in soziale Projekte. Da sich die Reicheren immer mehr aus Raiffeisens Vereinen zurückzogen, blieben nur die Ärmeren übrig.
Wie erfolgreich die Idee war, sieht man noch heute an der Präsenz von Raiffeisenbanken. Weltweit zählen die Raiffeisen-Genossenschaften mehr als 500 Millionen Mitglieder.
Hermann Schulze-Delitzsch, der zweite deutsche Vater des Genossenschaftswesens, hieß ursprünglich nur Hermann Schulze und kam aus dem sächsischen Delitzsch. Ihm als liberalen Mitbegründer der Fortschrittspartei lag vor allem dran, die dramatische Lage des Mittelstands zu lindern, der mit der stürmischen Industrialisierung nicht Schritt halten konnte. 1849 entstand durch seine Initiative eine „Rohstoffassoziation der Schuhmacher und Tischler“. Aus den von ihm gegründeten Vorschusskassen für Handwerker entwickelten sich später die Volksbanken.
Die Zusammenarbeit von Volks- und Raiffeisenbanken lag nahe, musste jedoch lange warten, denn der Prediger Raiffeisen und der Wirtschaftsliberale Schulze bekamen sich in die Haare. Heutzutage verweist der Bundesverband der Deutschen Volks- und Raiffeisenbanken auf über 13 Millionen KundInnen und den weitestgestreuten Anteilsbesitz der Welt. Dafür aber ist von den sozialreformerischen Ideen kaum mehr was zu spüren.
Vielleicht war es nicht ganz zufällig, dass die deutschen Genossenschaftsväter von gutbürgerlich-konservativem Zuschnitt waren, während sich in Frankreich die Sozialrevolutionäre für die kooperativen Ideen begeisterten. Noch bevor die Maschinerie des Industrialismus so richtig in Schwung kam, entwickelte der „utopische Sozialist“ Henri Saint-Simon (1760–1825) die Idee von Bürgervereinigungen, die via Staat gleichmäßig vom Wohlstand profitieren sollten. Charles Fourier (1772–1837) befürwortete die Aufteilung des Staates in autonome Genossenschaftsgebiete, und der anarchistisch-staatsfeindlich denkende Pierre Proudhon (1809–1865) entwarf Tauschgenossenschaften, bei denen Zirkulationsgutscheine das Geld ersetzen sollten.
Louis Blanc (1811–1882) entwickelte ein genossenschaftliches Gesellschaftsmodell, bei dem die gesamte nationale Produktion durch selbst verwaltete Werkstätten übernommen werden sollte. Im revolutionären Paris von 1848 versuchte er als Mitglied der provisorischen Regierung seine Theorien zu verwirklichen. Die von ihm gegründeten „Nationalwerkstätten“ produzierten indes nicht nur Waren, sondern auch Chaos, zumal andere Regierungsmitglieder sie sabotierten. In einem Anfall früh-keynesianischer Intervention ließ Blanc die unwirtschaftlichen Werkstätten als chantiers de charité, „Barmherzigkeitsbaustellen“, weiterlaufen, bis er ins englische Exil musste.
Im 1871 gegründeten Deutschen Reich ließ Reichskanzler Bismarck zwar die Sozialisten verfolgen, unterstützte aber gleichzeitig Sozialreformen, um die Gefahr einer Revolution abzuwenden. Das Genossenschaftsgesetz von 1889 beschränkte die Haftung der Mitglieder und unterstützte damit die Gründung neuer Kooperativen. Ein enormer Aufschwung setzte ein, vor allem bei den Konsumgenossenschaften. Um die Jahrhundertwende hatten sie 1 Million Mitglieder, in der Weimarer Republik bereits 4 Millionen; die Food Coops von heute sind dagegen lächerliche Zwerge.
Viele Genossen in der Sozialdemokratie fanden die Genossen der Genossenschaften indes ungenießbar. Produktionsgenossenschaften ließ Karl Marx ja noch gelten: „Die Kooperativfabriken der Arbeiter selbst sind, innerhalb der alten Form, das erste Durchbrechen der neuen Form, obgleich sie natürlich überall, in ihrer wirklichen Organisation, alle Mängel des bestehenden Systems reproduzieren müssen“, schrieb der Bärtige in seinem „Kapital“. Rosa Luxemburg warnte dann: „Produktivgenossenschaften … stellen … ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im Kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche … In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, … sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst.“
Luxemburg hatte mehr Recht, als ihr lieb war. Eingegliedert in den korporatistischen Staat, überlebten die alten Genossenschaften den Nationalsozialismus, um sodann im bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderstaat eine massive „Rückentwicklung zur kapitalistischen Unternehmung“ zu vollziehen. Doch das ist nicht das Ende der Geschichte: Gerade in jüngster Zeit treibt die alte Idee frische Blüten.