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Archiv-Artikel

First Things First

6. Preis: Tintins Hautvon ADELE ATZERT

„Sie meinen es doch ernst mit meinem Enkelsohn?“ Die Stimme der dicken Afrikanerin an der Feuerstelle im Innenhof der Familie Tintin klingt drohend. „Ja, im April komme ich wieder.“ Lisa ist zum ersten und zum letzten Mal in ihrem Leben hier. Sie steckt sich einen riesigen silbernen Ring ins linke Ohr. Eine Extraanfertigung für sie. Jean darf hier nicht weg. Einer, der nicht lesen, nicht schreiben kann, der den Reiseführer vom Senegal auf den Kopf hält, als er sagt: „Und hier, Chérie, hier fahren wir zusammen hin, wenn du das nächste Mal wiederkommst.“ Auf der Insel kann er jeden Morgen einen Kopfsprung ins Meer machen. Von seinem Bett aus. Beinahe! Lisa hat ein Prinzip. „First things first.“ Das hat sie sich über den Schreibtisch gepinnt. Sie ist eine der wenigen, die Klassenarbeiten rechtzeitig zurückgibt.

Wäre sie in Hamburg geblieben, wäre alles geblieben, wie es ist. Das Glas Prosecco am Abend, der teure Frisör einmal in der Woche. Sie ist nicht zu Hause geblieben, diesmal nicht. Diesmal Goré, die Insel, von der die Sklaven nie wiederkehrten. Jean ist mit ihrem Balituch auf und davon. Wo steckt er nur, er kann sie nicht hier mit der Großmutter zurücklassen. „Au revoir, Madame, une bonne journée.“ Gut, dass sie den Kurs an der Volkshochschule Hamburg besucht hat. In ihren schamlosesten Fantasien hätte sie sich nicht erträumt, sich so heftig in einen Mann zu verlieben. So schnell, so echt, so hoffnungslos. Sie schlendert an den Markttischen vorbei Richtung Meer. Es plätschert unschuldig, als wäre es noch nie Ozean gewesen. Mit weißen, hübschen Krönchen auf den Wellen.

Jean hat sich das Balituch um die schwarzen Lenden gewunden. Um die, deren nächtlicher Schwung sie beglückt. Er hat einen Ständer, Lisa sieht es von ihrem Platz aus, dem mit Blick auf die Fähre aus Dakar. Diese bringt die Touristen, die die Insel, von der die Sklaven abtransportiert wurden, besichtigen. Lisa schämt sich, als hätte sie es getan. Er? Er hat einen Ständer, obwohl er gerade kellnert. Eine junge Dame räkelt sich auf einem Stuhl an einem seiner drei Plastiktische. Lisa schaut nicht noch einmal hin. Fehlanzeige! Er lächelt sie an. Gleich wird er kommen, ihren Rücken eincremen. Das tut er wie keiner vor ihm. Dann wird sie feucht. Erst wird sie schwimmen. Dann, mit dem Afrikasand auf der Haut, wird sie sich ihren schwarzen, eng anliegenden Badeanzug abstreifen. Dort im Verschlag, direkt hinter Großmamas Strandcafé. Dort wird sie warten, wie beim ersten Mal. Hier gibt es einen tröpfelnden Wasserhahn. Hier ist es passiert, als Großmutter vorne im Laden bediente. Der Anfang einer Sommerliebe. Aufrichtig, innig, wie niemals wieder. „Vraiment, Madame, nous avons une douche pour vous“, hatte der große Mann versprochen, als er ihr den Milchkaffee servierte. Galant – wie einer aus einem Café an den Champs Élysées. Weil es in ihrem Hotel seit zwei Tagen nur wenige Liter Wasser pro Tourist gab, war die Aussicht auf eine Dusche für eine reife, überaus gepflegte Dame unwiderstehlich. Dazu der Schalk in den Augen des lebenslustigen Afrikaners, dem sie seit ihrer Ankunft verstohlen beim Tauchen zugeschaut hatte. Wie er sich von der Sonne trocknen ließ und die Tropfen einer nach dem anderen verschwanden. Jeans Haut schimmerte blauschwarz. Diesen Glanz würde Europa ihm nehmen, ganz sicher. Als sie das erste Mal in dem Holzverschlag stand, hatte sie warten müssen. Bibbernd. Kleine Furchten, nannte sie das. Trotzdem. Sie blieb und wartete, als wüsste sie, dass er kommt. Er würde leise kommen. Pantergleich. Sie drehte sich nicht um, um nichts in der Welt, keine Bewegung, auch nicht, als die Dusche nichts als ein Plastikbecher war, aus dem er ihr liebevoll das Wasser über ihren Rücken goss. Die richtige Menge, angenehme Temperatur. Rhytmisch fast. Ein Vorspiel, erregend, kein Entrinnen. Sie drehte sich auch nicht um, als er seine Lippen erst fragend, dann sicher auf ihre allein gelassene Haut drückte. Sie öffnete sich ihm. Er fühlte es, glitt sanft in sie hinein, so wie sie es mochte von einem, der ihren Körper bekam. Er folgte ihrer Einladung, ausgesprochen in wiegenden Bewegungen, es noch einmal zu tun. Länger diesmal, sie ausmalend, weiße Milch auf schwarzer Haut. „Oui, c’est bien ça.“ Noch einmal, so lange bitte, bis die Sonne draußen auf das Meer platschte und zischend der Mondnacht Platz machte. Ach Augenblick, verweile doch! Sie hatte sich nicht umgedreht. Erst als sein Kopf auf ihre Schulter fiel, sein Gesicht sich in ihren Nacken grub, nahm sie ihn in beide Hände, küsste und liebkoste ihn. So fing es an. Großmutter stellte sich ahnungslos. Er verließ den wissenden Ort zuerst. Dann trat sie heraus. Strahlend. Alles war anders jetzt. In der Woche danach, vor ihrem Abflug nach Hamburg, passierte dann alles andere. Das mit dem Reiseführer, dem Besuch bei Großmama und mit dem Balituch. Sie hatte noch fünf Abende, jeder ein Juwel im Lebensbuch der Unvergesslichkeiten. Die Sonnenuntergänge, das Rückeneincremen, die verdunstenden Wasserperlen. Fünf Mal hatte er sich Abend für Abend zu ihr gelegt. Nie hatte sie ihn kommen hören. Nie vergaß er, sie zu lieben. Inniger jede Nacht, bei offenem Fenster. Meeresrauschen, Sternenhimmel. Vom Alleinsein erlöst. Das Leben, ein Augenblick. Und doch. In Gedanken bat Lisa die Großmutter im Flugzeug aufrichtig um Verzeihung.

Fotohinweis: ADELE ATZERT, geboren 1952, studierte u. a. Regie in Amsterdam. Sie arbeitet als Dozentin für Schauspiel und Rezitation in Amsterdam und Utrecht. Ihr Buch „September, Oktober, November“ ist 2001 im Konkursbuchverlag erschienen.