: Löcher statt Herzen
Lidokino (4): „A Love Song for Bobby Long“ von Shainee Gabel und Gregg Arakis „Mysterious Skin“
Zwei Filme in der neu eingerichteten Programmreihe Orizzonti erzählen vom Jungsein in den USA. Der eine, „A Love Song for Bobby Long“, hat New Orleans zum Schauplatz: eine Stadt an der Grenze zur Landschaft, die von Regisseurin Shainee Gabel weniger als urbaner Raum in Szene gesetzt ist denn als subtropische Verwunschenheit mit fremdartigen Blüten, Schlingpflanzen und anmutig geschwungenen Baumstämmen.
Die 19-jährige Purslane (Scarlett Johansson) kommt hierher, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Sie kannte diese Frau kaum. Wer ihr Vater ist, weiß sie nicht. Und die beiden Menschen, mit denen ihre Mutter das Haus teilte, Bobby Long (John Travolta) und Lawson (Gabriel Macht), sind ihr anfangs zuwider. Die beiden sind Trinker – wenn auch solche mit akademischer Vergangenheit und einer großen Liebe zur Literatur. Eine solche Liebe darzustellen ist nicht eben einfach im Film. Indem sie Bobby in Zitaten sprechen lässt, entscheidet sich die Regisseurin für das Naheliegende. Immer hat er einen Satz von Robert Frost oder ein Gedicht von Dylan Thomas auf den Lippen. Wenn Bobby niemanden zitiert, macht er Witze darüber, dass sich die Abkürzung von Purslane, Pursy, auch wie pussy aussprechen lässt. So verbindet die beiden eine herzliche Feindschaft, und John Travolta gibt den alten Mann überzeugend verlebt. „A Love Song for Bobby Long“ hätte angesichts der Darsteller und Gabels Sensibilität für den Schauplatz eine schöne Coming-of-age-Geschichte werden können, doch die Regisseurin baut zu sehr darauf, dass ein Plot keine losen Fäden haben darf. Das markiert den Unterschied zu Sofia Coppolas „Lost in Translation“, wo Scarlett Johanssons Figur in Bill Murray einen Surrogatvater fand, der mehr war: Gefährte, Bruder, Beinahe-Liebhaber. Gabel hingegen zurrt die Verwandtschaftsfäden fest. So ist „A Love Song for Bobby Long“ ein rührendes Stück Kino: Es will beweisen, dass die Blutsverwandtschaft mehr verspricht als die Wahlverwandtschaft, selbst noch bei den späten Hippies von New Orleans.
Um wie viel radikaler ist da Gregg Arakis „Mysterious Skin“: Väter kommen hier nur am Rande vor, die Mütter sind entweder übersorgsam oder nachlässig. Ein Baseball Coach spielt Verhängnis, und Außerirdische, die Kinder entführen, gibt es auch. Wie beides miteinander zusammenhängt, daraus macht Araki kein Geheimnis: „Mysterious Skin“ erzählt eine Missbrauchsgeschichte. Die Aliens okkupieren die Erinnerung von Brian (Brady Corbet); er sieht spindelige Finger und Marsianer im Gegenlicht, kann aber sonst keinen Zusammenhang herstellen.
Ein dankbares Feld für einen Film, da sich hier die Obsessionen überkreuzen: das tatsächliche Trauma, die gesellschaftliche Hysterie angesichts des Missbrauchsthemas, das Eindringen moderner Mythologie in die individuelle Erinnerung. Interessant etwa ist, wie sich der Film zu Brians Visionen verhält: Statt sie als solche zu markieren, teilt er sie. Wenn ein UFO über das Haus von Brians Familie fliegt, sieht nicht nur er es, sondern auch die Mutter und die Schwester. Statt sich der Schwere des Sujets anheim zu geben, schafft Araki also einen bunten Reigen. Mit einer Ausnahme wird alle Gewalt in Pop aufgelöst – fast buchstäblich: Der erste Missbrauch wird dadurch eingeleitet, dass bunte Cornflakes durch die Küche wirbeln. Arakis visueller Einfallsreichtum ist erfrischend, birgt aber zugleich eine Gefahr: Er, der große Virtuose, zeigt uns, was er alles kann.
Das macht „Mysterious Skin“ zu einem eitlen Monster, so unwiderstehlich wie die zweite Hauptfigur, Neil (Joseph Gordon-Lewitt), aber auch mit dessen größtem Fehler versehen: „Wo andere Menschen ein Herz haben“, weiß Neils Busenfreundin, „hat er ein schwarzes Loch ohne Boden.“ CRISTINA NORD