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Archiv-Artikel

Zur knappen Mehrheit gequält

Nur mit Druck und Rücktrittsdrohungen zwang der Kanzler seine rot-grüne Koalition zu einem Ja zur Gesundheitsreform

aus Berlin ROLF KLEINE

„Den Haien entrann ich,

Die Tiger erlegte ich,

Aufgefressen wurde ich

Von den Wanzen.“

Brecht – wer sonst?

Sogar Doris war schon da – für alle Fälle! In den Arm genommen hätte sie ihren Kanzler – falls nicht sechs, sondern ein paar mehr Genossen im Bundestag gegen die Gesundheitsreform gestimmt hätten. Eine letzte Fraktionssitzung, Bundespressekonferenz – dann nach Hause. Zu Tochter, Hund und Katze. Schluss mit Regieren. Rumms!

Ohne eigene Mehrheit, so hatte Gerhard Schröder gedroht, werde er hinschmeißen – und fortan in Hannover privatisieren … Nun muss er weitermachen! Und vielleicht sah sein Lächeln deshalb so gequält aus, als gestern um 10.52 Uhr unter der Reichstagskuppel das Ergebnis feststand: Sechs SPD-Abgeordnete haben mit Nein gestimmt. Rot-Grün hat mehr Stimmen als die Union.

Eine „eigene Mehrheit“ darf die Regierungskoalition das nennen – bei äußerst wohlwollender Auslegung jedenfalls. Denn hätten bei der Union nicht 23 Abgeordnete gefehlt, aber Schluss jetzt mit den Konjunktiven! „Schon wieder – Kanzler droht mit Rücktritt!“, hatte Bild am Morgen geschlagzeilt. Auf Seite 1, „über Bruch“. Im Kreise der Landes- und Bezirkschefs hatte Gerhard Schröder seiner Partei am Donnerstagabend klar gemacht hatte, dass er keine Lust hat, ohne Mehrheit zu regieren. Galliger Kommentar eines SPD-Abgeordneten: „Die Zahl der Rücktrittsdrohungen nähert sich unserem Ergebnis bei der Bayernwahl …“ Ganz so schlimm ist es noch nicht, weder in Berlin noch in Bayern! Schröders aktuelle Drohung mit (mindestens) „15 Jahren Opposition“ war – je nach Zählung – die Nummer sechs, sieben oder acht. Dass es diesmal überhaupt soweit kommen musste, dafür hatte des Kanzlers zweites Ich, der SPD-Vorsitzende, gesorgt. Und das eigentlich ohne Not!

Wenn, so teilte er am Montag im SPD-Präsidium den Kollegen mit, wenn Rot-Grün bei der Gesundheitsreform nicht mehr Stimmen auf die Waagschale bringe als die Union, dann sei die Koalition am Ende – „und es droht eine Oppositionszeit, länger, als Herbert Wehner sie damals voraussagte“!

Sprach’s – und reiste nach New York.

Was George W. Bush nicht kann (aber letztes Jahr sicher gern gekonnt hätte), was Edmund Stoiber nicht gelang (knapp!) – das können nun Menschen mit Namen wie Rüdiger Veit oder Sigrid Skarpelis-Sperk (Spitzname: SS 20): den Kanzler stürzen.

Denn auch wenn Schröder, sein Vize Joschka Fischer (war eigens per Linienflug vorzeitig aus USA zurückgekommen) und SPD-Fraktionschef Franz Müntefering die Abstimmung gestern als Erfolg verkauften – eines ist sicher: Richtig eng wird es erst bei den Abstimmungen der kommenden Wochen. Dann, wenn über die Teile der Agenda 2010 gerichtet wird, bei denen die Union nicht mitmacht. Sechs Neinstimmen aus dem eigenen Lager sind dann womöglich tödlich!

Auch deshalb wird der Ton, mit dem die Parteiführung die eigenen Leute zu diziplinieren versucht, immer schriller. „Wir haben vor 140 Jahren nicht begonnen, um Programme zu schreiben, sondern um politisch zu gestalten“, beschwor Fraktionschef Müntefering gestern morgen seine Abgeordneten.

Die ganze ruhmreiche Geschichte der Sozialdemokratie als Gewicht in die Waagschale geworfen – fragt sich, womit er beim nächsten Mal drohen will …

Dass die Abweichler ihr Verhalten auf Anweisung Münteferings mittlerweile öffentlich vor der Fraktion begründen müssen, hat ebenso wenig noch ein abschreckende Wirkung wie seine Warnung vor einem „Spiel mit dem Feuer.“ Jedenfalls so lange die aktuellen Umfragedaten der SPD weiter einen stabilen Sinkflug bescheinigen. Doch für diese politischen Niederungen ist des Kanzlers Lehnsvolk zuständig. Mehrheiten organisieren und zusammenhalten, dafür gibt es Fraktionsvorsitzende und Sekretäre mit dem Zusatz „General“. Sich auf dem Feldherrnhügel im Glanze des Sieges sonnen, das war gestern des Kanzlers. Das eigene Abgeordneten-Volk mehr oder weniger hinter sich ge-zwungen, Abstimmung gewonnen – und dann noch ein überraschend süßer Bonbon aus Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Pressefreiheit hin oder her – die Haare unse-res Kanzlers sind nicht gefärbt. Basta!

Oh, glückliches Deutschland.

Rolf Kleine ist Leiter der Bild-Parlamentsredaktion