: Abschiebungen aus Humanität
Die schwedische Regierung will auf das Problem der 150 apathischen Flüchtlingskinder reagieren – und verschärft die Asylgesetzgebung. Menschenrechtsorganisationen finden das „beklemmend“
AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF
Nach monatelangem Schweigen will die schwedische Regierung nun das Problem der apathischen Flüchtlingskinder angehen. Es geht um etwa 150 Kinder von Asylsuchenden, die zum Teil seit Wochen und Monaten in Lethargie verfallen sind, nicht mehr sprechen, essen und trinken und teilweise in Kliniken künstlich ernährt werden müssen (vgl. taz vom 3. August). Jetzt soll eine Regierungsbeauftragte, die Psychologin Marie Hessle, die Lage analysieren und Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Asylsuchenden erarbeiten.
Gleichzeitig glaubt die Regierung aber, ihre eigenen Schlüsse bereits vorab ziehen zu können. Das Hauptübel ist für sie offensichtlich die Tatsache, dass das jetzige Asylverfahren die Möglichkeit bietet, sich zumindest ansatzweise in die schwedische Gesellschaft zu integrieren. Migrationsministerin Barbro Holmberg kündigte deshalb gleichzeitig mit der Ernennung von Hessle an, dass Stockholm die Asylverfahren, in denen auch Kinder beteiligt seien, ausgliedern und beschleunigen und generell die Rechtsstellung aller Flüchtlinge beschneiden werde.
Seit 1994 war es für Asylsuchende möglich, außerhalb der staatlich angebotenen Flüchtlingsunterkünfte zu leben. Sofern man eine eigene Wohnung fand, wurde die Miete entsprechend übernommen. Dieses vor zehn Jahren als wichtiger Integrationsschritt gefeierte Zugeständnis wurde aber offenbar von zu vielen Flüchtlingen auch tatsächlich angenommen. Statt im Budget vorgesehener 10 Prozent der Asylsuchenden suchen sich mittlerweile etwa die Hälfte eine eigene Wohnung. Nun argumentiert die Regierung, dass dieses – für die Staatskasse teuere – Leben außerhalb von Flüchtlingsunterkünften vor allem für Kinder negative Aspekte habe. Es gebe häufige Umzüge, die den Schulgang störten, und die Familien hätten die Nähe zu Landsleuten und Verwandten gesucht – auch zum Preis unzureichender Wohnverhältnisse. Das Wohnen außerhalb der Sammelunterkünfte und fern der Kontrolle durch die Einwandererbehörde habe es auch erschwert, dass Ärzte und Psychologen rechtzeitig auf die Situation der Kinder aufmerksam geworden seien.
Außerdem wird auch eine bereits angekündigte Verschärfung des Asylrechts nun mit den apathischen Kindern gerechtfertigt. Zur Beschleunigung des Verfahrens – „ein langes Verfahren erschwert die Situation der Kinder“ (Holmberg) – wird grundsätzlich die Möglichkeit abgeschafft, nach Ablehnung eines vorangegangenen Asylantrags einen neuen zu stellen. Carl Söderberg, Generalsekretär der schwedischen Sektion von amnesty, findet es „beklemmend, dass die Regierung sich hinter kranken Kindern versteckt, um eine Beschleunigung des Asylverfahrens zu rechtfertigen“.
Eine solche Verschärfung verspricht auch die Zahl untergetaucht lebender Flüchtlinge zu erhöhen. Etwa 85 Prozent der Asylsuchenden erhalten in Schweden derzeit einen negativen Bescheid. Vor einer Ausweisung verschwindet ein Viertel dieser Personen – viele in die Illegalität. Michael Williams von FARR, einer Zusammenarbeitsorganisation von Flüchtlingsgruppen und Asylkomitees, begrüßt einerseits, dass Stockholm nun endlich auf die Frage der apathischen Kinder aufmerksam werde. Er beklagt aber, dass derzeit viele dieser Familien mit kranken Kindern einfach abgeschoben würden. Funktionierende Krankenversorgung, argumentiert Ministerin Holmberg, gebe es ja nicht nur in Schweden. Und: „Es reicht nicht aus, Kind zu sein, um bei uns Aufenthalt bekommen zu können.“
Die Logik, den apathischen Kindern helfe man am Besten damit, sie so schnell wie möglich in die Länder zurückzuschicken, wo Erlebnisse womöglich den Grund für diesen Krankheitszustand gelegt haben, wirft für die Borås Tidning „eine Reihe Fragen auf. Zum Beispiel die, ob Holmberg gerne auch selbst mit dieser Art von Humanität Erfahrungen machen möchte.“