: Sieg über den Hammermann
Beim Marathon gibt es nicht nur Biblisches am Wegesrand. Der Lauf hat überhaupt etwas von einer Schicksalsgemeinschaft mit teuflischen Herausforderungen. Ein Selbstversuch über 42,195 Kilometer
von STEFAN ALBERTI
Der Bibelspruch hängt, frei nach Lukas zitiert, in einer Kurve in Wilmersdorf bei Kilometer 25. „Was nützt es, wenn der Körper schneller ankommt, die Seele dabei aber auf der Strecke bleibt?“ An diesem Punkt des Berlin-Marathons aber stellen sich solche Fragen nicht mehr. Da würde Existenzielleres passen: Die Erlösung rückt näher. Nur noch 17 von 42,195 Kilometern.
Etwas Biblisches hat die ganze Veranstaltung durchaus. Speisung der 5.000 – alle paar Kilometer am Verpflegungsstand, und sogar für siebenmal so viele Menschen. Versuchung in der Wüste – wenn der Gedanke ans Aufgeben kommt. Wundersame Heilung – auf der Massagebank beim Roten Kreuz.
Fast kirchentagsmäßig hat es am Morgen um 7.30 Uhr in der S-Bahn begonnen. Erkannte man sich da an den Halstüchern, sind es hier Tüten mit Ersatzklamotten und Marathon-Logo. Die gab es an den Tagen vorher mit den Startnummern, und die lassen einen wildfremden Leuten bedeutsam zunicken: Gleich wird’s ernst. Eine Schicksalsgemeinschaft für einen Vormittag.
„30.000 Asketen, die erstaunlicherweise dasselbe ungesunde Bild abgeben wie die Kundschaft in Biomärkten“, sah 2002 der Kollege, der damals an dieser Stelle schrieb. Und schöne Frauen vermisste er auch.Vielleicht ist das Geschmackssache, aber ungesund sieht um uns rum keiner aus, und hässlich auch nicht.
Neben mir läuft meine Frau, die mich monatelang als Trainer ertragen hat, um einmal einen Marathon zu laufen. Um sich zu zeigen, dass sie auch drauf hat, wovon andere gerne wie von Fronteinsätzen erzählen.
Es läuft gut für uns. Und damit schlecht für die Dramatik. Wir begegnen ihm nicht, dem Mann mit dem Hammer. Das ist der, der einen aus den Latschen haut, wenn Training, Ernährung, Tempo oder Tagesform nicht stimmen. Stimmen aber wohl bei uns, dank vieler Expertentipps. Sorry, Hammermann.
Wie es anders kommen kann, zeigt sich zunehmend ab Kilometer 25, eben jener Bibel-Kurve. Immer wieder geht einer oder humpelt. Andere liegen beim Roten Kreuz und müssen sich Krämpfe rausmassieren lassen.
Der Hammermann hat noch einen anderen Feind als gutes Training: Die anfeuernde Menge am Straßenrand. Rasseln überall, ein Fanfarenzug am Alex, Bongotrommeln kurz vorm Roten Rathaus, ein „Quäl dich, Papa“-Schild gleich am Start. Am lautesten ist es an zwei völlig entgegengesetzten Stellen. Am Kottbuser Tor gibt es unter der Hochbahn auf Türkisch die passendsten Beats zum Lauftempo. Und in gutbürgerlichster Wohnlage, an der Grenze zu Steglitz, stehen die Zuschauer schier noch dichter, lassen Lautsprecher wummern, hauen auf die Absperrplanen.
Im Uhrzeigersinn führt die Strecke durch die Stadt, kommt schließlich zum Ku’damm. Dort war in vergangenen Jahren das Ziel. Dieses Mal geht es weiter über Potsdamer Platz, Gendarmenmarkt, Dom, Unter den Linden, Pariser Platz und schließlich durchs Brandenburger Tor. Ein echter Psychotrick: Solches Sightseeing lenkt ein bisschen von den müde werdenden Beinen ab, und nicht nur, wenn man wie etwa die über 3.000 dänischen Teilnehmer von außerhalb kommt. Vor allem, weil die Szenerie bei Sonnenschein und optimaler Lauftemperatur von 17, 18 Grad noch netter aussieht.
Dom, Staatsoper. Noch einen Kilometer. Durchs Brandenburger Tor. Schlussspurt ansetzen. Noch 300 Meter zum Ziel. An die Hand nehmen. Jubeln. Auf die Uhr gucken und stoppen. 3:47, nur zwei Minuten über der optimistischsten Schätzung. Glücklich sein. Wieder biblisch gesprochen: erlöst. Die Laufschuhe kommen jetzt in die Ecke. Ein paar Tage jedenfalls.