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Archiv-Artikel

Im alten Zentrum Westberlins

Der Charme der 60er-Jahre: Das Europa-Center ist das schmucklose Highlight eines Berlin-Besuchs mit Kentucky Fried Chicken, Irish Pub, Wasseruhr

Da, wo früher das Romanische Café war, steht heute das Berliner Europa-Center: ein schmuckloses Hochhaus-Ensemble, das zusammen mit der Gedächtniskirche, wo sich die an Alzheimer Leidenden Linderung erhoffen, das Zentrum von Westberlin bildet. Normalerweise meidet man als Linker solche Mehrzweckgebäude wie die Pest, aber einmal traf ich in der Künstlerpension Nürnberger Eck auf eine Gruppe friesischer Touristen, die nur wegen des Europa-Centers jedes Jahr nach Berlin kommen, ebenso wie eine Gruppe von Mosambikanern, die an der Moskauer Lomonossow-Universität Medizin oder Ingenieurswissenschaft studierten. Während diese Computer und andere Elektronik für ihre Professoren kauften und nur zwischendurch im Afrikanertreff Kentucky Fried Chicken einkehrten, besuchten die Friesen das Europa-Center rein zum Vergnügen.

Meistens saßen sie im riesigen Irish-Pub und betranken sich. Zu meiner Überraschung verkehren dort auch sehr viele Iren. Zwei der Friesen hatten bereits ihre späteren (irischen) Ehefrauen in diesem Pub kennengelernt. Diese ließen sie aber nun zu Hause – „wegen der Kinder“. Für mich machten sie eine Führung durchs Haus – bis hoch zu den „Berlin Windows“ im 20. Stock. Früher konnte man noch höher hinauf – bis zum „größten sich drehenden Mercedesstern der Welt“, erklärten sie mir, „aber die Plattform wurde geschlossen, weil nach der Wende zu viele Ostler von dort nach unten sprangen: aus Enttäuschung über die Glitzermeile Ku’damm, die sich von oben aus gesehen als armseliger Bluff erwies“.

Als wir unten an der französischen Wasseruhr und dem ebenfalls französischen Lotus-Brunnen standen, erzählte uns einer der Hausmeister: „Hier war früher eine Kunsteisbahn. Sie wurde jedoch stillgelegt, nachdem sich zu viele türkische Teenager beim Schlittschuhlaufen verletzt hatten.“

Draußen vor der Tür konnte auch ich die Friesen endlich auf zwei Sehenswürdigkeiten aufmerksam machen: auf den Flackerobelisken an der einen Seite des Gebäudes, den der Düsseldorfer Lichtkünstler Heinz Mack entwarf – mithilfe von 20.000 Glühbirnen, und auf die Mengenlehre-Uhr an der anderen Center-Seite, die der Weddinger Erfinder Dieter Binninger baute – mithilfe von 200 Glühbirnen. Weil diese wegen der Erschütterungen durch den Verkehr andauernd kaputtgingen, erfand Binninger eine Glühbirne, die 150.000 Stunden hielt. Daraus entstand erst eine kleine Glühbirnenfabrik mit nur einem Arbeiter und dann nach der Wende der Plan, das riesige Ostberliner Glühlampenwerk Narva zu übernehmen. Kurz nachdem er den Kaufvertrag schließlich unterschrieben hatte, stürzte der Erfinder jedoch bei Helmstedt mit dem Flugzeug ab …

Die Friesen waren zwar offensichtlich beeindruckt, aber so genau wollten sie es eigentlich dann doch nicht wissen.

HELMUT HÖGE