Quadratur der Machtblöcke

Im Berliner Martin-Gropius-Bau läuft die Ausstellung „Berlin–Moskau / Moskau–Berlin 1950–2000“. Die Schau gibt neue Perspektiven auf die Entwicklung der deutschen und russischen Kunst frei

Es gibt keinen stringenten Parcours, ausgestellt wird nach „Konstellationen“

von BARBARA KERNECK

Auf die Frage „Warum haben Sie eigentlich auf dem Wörtchen ‚Berlin‘ im Titel der Ausstellung ‚Berlin–Moskau/Moskau–Berlin 1950–2000‘ bestanden?“, antwortet ihr Hauptkurator, Jürgen Harten, unverblümt: „Haben wir gar nicht. Das war eine Vorgabe der Politik. Wir konnten nur noch den Zusatz ‚von heute aus‘ durchsetzen.“

Die Mammutschau mit über 500 Werken von rein 200 KünstlerInnen, die am Sonntag eröffnet wurde, hat sich nämlich eine grundsätzlich andere Aufgabe gestellt als ihre fast gleichnamige Schwesterausstellung, die vor acht Jahren gleichfalls im Gropius-Bau gezeigt wurde. Ging es damals um Verbindungen zwischen der Kunst in Russland und Deutschland mit dem Schwerpunkt der 20er-Jahre, so erhalten wir heute erstmals einen Überblick über die Entwicklung der Kunst im Systemkonflikt zwischen dem westlichen und dem östlichen Machtblock während der letzten 50 Jahre.

Notwendigerweise bezieht sich eine solche Retrospektive auf mehr als zwei Pole. Trotzdem spielt Berlin weiterhin eine zentrale Rolle, denn der West- und der Ostteil der Stadt fungierten ja als Schaufenster ihrer jeweiligen Schutzmacht. Deshalb wird diesmal viel US-Kunst gezeigt.

Dass die Blockdifferenzen noch immer stark nachwirken, bekamen die russische Kuratorengruppe (Pawel Choroschilow, Ekaterina Degot und Viktor Misiano) und die deutsche (Jürgen Harten, Angela Schneider, Christoph Tannert) zu spüren. Beide Seiten erwähnen in ihren Vorworten zum Katalog Meinungsverschiedenheiten mit den Vertretern der jeweils anderen Nation. Was wir also im Gropius-Bau zu sehen bekommen, ist das Resultat eines komplizierten politischen Kompromisses.

Von vornherein einig waren sich alle Kuratoren darüber, dass es unmöglich sein würde, eine Art künstlerisches Kraftfeld zwischen den beiden namengebenden Städten zu rekonstruieren. Hatte es doch zwischen Moskau und West-Berlin in den 50er-Jahren keinerlei direkte kulturelle Beziehungen gegeben.

Dann aber tauchten in den Debatten Schwierigkeiten auf: Postsowjetische und westliche Geschichtsmetaphern zur Beschreibung der Kulturgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ließen sich nicht schnell miteinander in Einklang bringen. Überhaupt wäre mehr Zeit notwendig gewesen, um die Bilder in einen kulturhistorischen Kontext eingeordnet zu präsentieren. Nachdem aber Putin und Schröder für 1993/94 die deutsch-russischen Kulturbegegnungen beschlossen hatten, bekam die als Krönung dafür gedachte Ausstellung nur zwei Jahre Vorlauf. Für ein solches intellektuelles Großunternehmen bedeutet dies: Planung im Hauruckverfahren.

Bei einem didaktisch-historisches Herangehen hätte man die russische Entwicklung in Berlin zuerst in einer nachholenden Ausstellung für sich zeigen müssen: So, wie die DDR-Kunst zur Zeit in der Nationalgalerie vorgestellt wird. Dass die Kuratoren diesen Ansatz verwarfen, hat es ihnen ermöglicht, die westlichen und östlichen Bilder, Skulpturen und Installationen im Gropius-Bau querbeet zu platzieren, wobei jeder Raum eine so genannte „Konstellation“ beherbergt.

In ihr sollen die Kunstwerke aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig interpretieren. Da führen zwei gleich wandfüllende Gemälde von Thomas Dehmann (Köln) und Thomas Scheibitz (Dresden) einen scheinbar absichtlichen Dialog. Da flackern in einem anderen Raum die frappierend ähnlichen Leuchtkästen und Acrylbilder der Gruppen Dwishenije (Moskau) und Zero (Westdeutschland), die sich beide an der Wende der 50er- zu den 60er-Jahren, völlig unabhängig, an der Eroberung des Kosmos berauschten. Ausgewählt wurden dabei Kunstwerke, deren Verhältnis zueinander „von heute aus“ interessant erscheint.

Was genau als „interessant“ gilt, haben die Kuratoren entschieden, welche die Ausstellung verfasst haben. Das Resultat ist Belletristik. Die Kunstwerke agieren hier wie Personen, deren Zusammentreffen in einem Historienroman möglich wird, obwohl es die reale Geschichte vielleicht verhinderte. So wie den Lesern eines solchen Romans bekannte Tatsachen in einem neuen Licht erscheinen, fällt es den Wanderern in den Martin-Gropius-Sälen bisweilen wie Schuppen von den Augen. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass das Riesentableau von Barnett Newman „Who is afraid of red, yellow and blue“ (1970) und die gleich nach dem russischen Sieg im Zweiten Weltkrieg entstandene Pietà „Ruhm den gefallenen Helden“ des sozialistisch-realistischen Malers Fjodor Bogorodski etwas Gemeinsames haben? Und doch wird in der Konstellation unter dem Titel „Rhetorik des Erhabenen“ in beiden ein gleich starkes Pathos spürbar: das Gefühl des Künstlers, er habe den Weg zur Erlösung betreten.

Geteilt wird dieses Gefühl wohl kaum von solchen Besuchern des Gropius-Baus, die gern mehr Systematisierung und Einordnung hätten, denn es gibt in dieser Ausstellung keinen stringenten Parcours. An der Wand des südlichen Treppenaufgangs zieht die riesige Videoprojektion der serbischen Performance-Künstlerin Marina Abramović mit der leise im Wind flatternden weißen Friedensfahne die Eintretenden feierlich nach oben. Im ersten Stock finden sich vor allem Werke von Künstlern der Nachkriegs- und der mittleren Generation, im Erdgeschoss die Kunst seit den 90ern. Da sich die verschiedenen Generationen aber nun mal durch ihre Themen und durch ihr Lebensgefühl unterschieden, kommt die Chronologie durch das Hintertürchen wieder herein. Weil aber das Ausstellungskonzept in den einzelnen Raumkonstellationen auch wieder Zeitsprünge erfordert, hat es wenig Sinn, die Säle nach ihrer Nummerierung abzuschreiten. Dem trägt die kostenlose Audio-Führung Rechnung, deren Kommentar zu jedem Raum sich auf dessen Schwelle automatisch einschaltet. Dies alles lädt dazu ein, einfach von Lust und Laune geleitet durch das Gebäude zu kreuzen – ein sinnliches Abenteuer für Leute, die sich gern treiben lassen.

Wer die Augen offen hält, bekommt Gelegenheit, mit Vorurteilen aufzuräumen. Zum Beispiel damit, dass die anerkannte realistische Kunst im Osten immer qualitativ minderwertig gewesen sei, irgendwie schuldig. Oft waren deren Vertreter in Russland und in der DDR ausgebuffte Professionelle. Und manchmal war ihr Realismus, wie bei Werner Tübke oder Geli Korshew, von einer Art, die den ideologischen Auftrag unterminierte. Werner Tübkes unvollendetes Triptychon „Mensch – Maß aller Dinge“, geplant für den Palast der Republik, ist scheinbar ein Renaissance-Gemälde, dafür aber merkwürdig arm an Perspektive.

Widerlegt wird auch die Idee, dass die nonkonformistische Sowjetkunst zwar zu Hause modern gewesen sein mag, der westlichen aber doch hinterherhinkte. Um zu erkennen, dass dies nicht zutrifft, muss man allerdings zum unterhaltsamen und lehrreichen Chronik-Band des Katalogs greifen. Unvorbereitet wird der Betrachter zum Beispiel vor den vom Licht der Ikonenmalerei inspirierten, abstrakten Stillleben eines Wladimir Wejsberg nicht begreifen, warum dieser Künstler diskriminiert wurde – ja nicht einmal, dass er es war.

Die Kunstwerke werden platziert wie das Personal in einem Historienroman

Anders ist dies bei der markerschütternden Komik der Soz-Art-Gemälde von Komar und Melamid. Deren spezifisch russischen Humor finden wir bei der jüngsten Künstler-Generation wieder, globalen Weltstädtern wie Wladislaw Mamyschew-Monroe. Der hat sich in seinen Performances als „erster russische Sex-Star“ ablichten lassen, als die Stalin-Zeitgenossin und Filmactrice Ljubow Orlowa.

Als sich die Karriere der Diva auf der Höhe befand, wäre Mamyschew-Monroe als Tunte unweigerlich im Lager gelandet und kurz darauf im Jenseits. Ljubow Orlowa, im Original, wurde eines Tages tatsächlich verhaftet, weil sie den Nachstellungen des lüsternen Geheimdienstchefs Berija widerstand. Die Unverwüstliche überlebte die Zwangsarbeit. Wenn Mamyschew-Monroe heute die Orlowa spielt, lässt sich über beide schmunzeln.

Dass wir wirklich „in glücklicheren Zeiten angekommen“ sind, wir möchten es so gerne glauben. Pawel Choroschilow, Kurator und stellvertretender Kultusminister der Russischen Föderation, schreibt es in seinem Vorwort zum Katalog. Er schreibt auch, dass Berlin und Moskau heute zwei „mehr oder weniger normale europäische Metropolen“ sind. Doch ein Stein des Anstoßes, den die russische Seite unter den Exponaten fand, bezeugt schon, dass sich dies nicht ganz so verhält. Ein kurzes Ringen gab es schon, ehe Jeff Walls riesiger, schwarzweißer Schaukasten „Dead Troops Talk“ in dem Raum namens „Russenbilder“ aufgestellt werden durfte. Walls Kasten enthält plastische Zombies – eine Gruppe halb zerschossener, halb wahnsinniger Soldaten in der Wüste. Wall hat ihn als Paraphrasierung eines populären russischen Gemälde-Schinkens mit dem Titel „Die Ruhe nach der Schlacht“ von Juri Neprinzew geschaffen. Gleichzeitig bezog er sich damit auf den von der Sowjetunion in Afghanistan geführten Krieg. Für die russische Seite zeigte sich offenbar eine schmerzliche Parallele zum aktuellen Krieg in Tschetschenien.

Beide Kuratorenteams haben bei dieser Ausstellung die Größe besessen, Differenzen einfach stehen zu lassen. Die russische Kulturpolitik hat damit einen Schritt nach vorn gewagt. Es bleibt abzuwarten, wie diese Ausstellung in der Moskauer Tretjakow-Galerie präsentiert werden wird. Zwar wird nicht jeder das heutige Konzept gleich erhellend finden. Dafür eröffnet diese Ausstellung aber doch eine einzigartige Möglichkeit: Hier lässt sich durch die Folie der Ästhetik erfahren, wie sehr die Kontrahenten im Kalten Krieg miteinander verwoben waren.

Nicht nur die Geheimdienstleute beider Seiten, nicht nur die Politiker mit ihren Ideologien hätten ohne einander nicht leben können. Sondern, siehe da: Selbst die Kunst in Ost und West spross aus einem gemeinsamen, unterirdischen Geflecht. Im Gropius-Bau werden wir noch einmal von jenem bedrohlich-gemütlichen Yin/Yang-Gebilde umfangen, das so lange unsere Welt war und uns nun so plötzlich und sanft freigesetzt hat.