: Das Puzzle passt wieder
Nicolas Kiefer erreicht nach mehr als drei Jahren wieder einmal ein Achtelfinale einesGrand-Slam-Turniers. Dabei vertraut er auf die Weisheiten eines großen Amerikaners: Andre Agassi
AUS NEW YORK DORIS HENKEL
Manchmal haben ein paar Zeilen über ein Tennisspiel größere Wirkung, als man denkt. Ende Juni spielte Nicolas Kiefer in Wimbledon gegen den Schweden Thomas Johansson und hatte fast schon gewonnen, als die Partie im Regen unterbrochen werden musste. Nach diversen Pausen verlor er völlig die Spur und trudelte in einem fürchterlichen fünften Satz in die Niederlage. Höchststrafe: 0:6. In der schwedischen Presse äußerte sich Johansson hinterher nicht allzu positiv über Kiefers Leistung – was der erfuhr, weil ihm sein schwedischer Trainer Thomas Hogstedt den entsprechenden Artikel unter die Nase hielt. Keine schlechte Idee. Als Kiefer in der dritten Runde der US Open wieder gegen Johansson spielte, war er schwer daran interessiert, sich von seiner besseren Seite zu zeigen, spielte so gut und konzentriert wie lange nicht mehr und gewann in drei überaus klaren Sätzen 6:4, 6:0, 6:1.
Zum ersten Mal seit den Championships in Wimbledon 2001 hat Kiefer nun wieder das Achtelfinale eines Grand-Slam-Turniers erreicht. Ist endlich wieder dabei, wenn die zweite Woche der US Open beginnt und damit jener Teil, der wirklich zählt. Diese Zwischenbilanz findet Kiefer einerseits nicht überraschend, weil er nach Wimbledon mit guten Ergebnissen bei den nordamerikanischen Hartplatz-Turnieren Selbstbewusstsein und Zuversicht gewonnen hat und wieder an sich glaubt.
Andererseits staunt er schon. So viele unvergessliche Eindrücke er von den Olympischen Spielen mitgebracht hat, so sehr spürt er immer noch die Belastung in den Knochen. „Dass ich in der zweiten Woche noch dabei bin, davon hätte ich nicht geträumt, denn ich war wirklich platt, als ich in New York angekommen bin. Ich wusste nicht, wie ich das alles überstehen soll.“
Aber das ist halt der alte Trick: Wer gewinnt, dem geht es gut. Besonders nach einem solchen Sieg wie gegen Johansson. Trotz frühem Rückstand ein mutiger Beginn, zum ersten Mal Ausgleich beim Stand von 3:3, und von da ab erlebte der Schwede eine ähnlich bittere Zeit wie sein Gegner in der Endphase in Wimbledon. Kiefer zog seine Kreise mit der gleichen Präzision wie jene Flugzeuge, die über dem Stadion eine Werbebotschaft in den Himmel schrieben, und Johansson fiel der Himmel auf den Kopf. Nur kurz vor Schluss zitterte Kiefer ein wenig, als er drei Matchbälle vergab – die Matchbälle von Athen hat er schließlich nicht vergessen –, aber diesmal nutzte er den vierten.
Friede, Freude, Feiertag? Kann man so sagen. Er ist stolz auf sich und seine Steigerung in diesem Jahr. Als Nummer 55 der Weltrangliste ist er gestartet, vor Beginn der US Open stand er auf 20, und nach dem Ende wird er garantiert weiter vorgerückt sein. Er sagt: „Das Puzzle passt allmählich zusammen.“ Er ist seit längerem fit und gesund, und er hat nun wieder den Mut, jenen Ratschlägen zu folgen, die er sich von Zeit zu Zeit gern von Andre Agassi holt. Kernsatz der kostenlosen Beratung: Riskier was und vertraue deinem Spiel; du kannst nicht auf die Fehler des anderen warten, wenn du gewinnen willst.
Nun braucht man eine gewisse Sicherheit, um sich daran zu orientieren, aber Kiefer glaubt, die habe er. „Ich weiß mittlerweile, dass ich jedes Spiel umdrehen kann.“ Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen, aber der nächste Prüfer steht bereit. Am Montag – dem ersten Montag der zweiten Woche seit einer kleinen Ewigkeit – wird Nicolas Kiefer im Achtelfinale der US Open gegen Tim Henman spielen, Nummer sechs der Weltrangliste und Nummer fünf des Turniers.
Er war schon seit Stunden mit seiner Bilanz der erfreulich guten ersten Hälfte der US Open fertig, als sich Henman Samstagabend noch mit aller Macht gegen eine Niederlage wehrte. Erst in fünf Sätzen besiegte der Brite den tschechischen Qualifikanten Michal Tabara, zeigte dabei aber wieder mal, dass aus dem eleganten Serve-and-Volley-Künstler ein respektierter Kämpfer geworden ist. Auch einer, der jetzt viel besser als früher von der Grundlinie spielt, wie Kiefer findet.
Wie es sich anfühlt, gegeneinander zu spielen, haben die beiden fast schon vergessen, denn die letzte gemeinsame Begegnung liegt zwei Jahre zurück. In der Bilanz führt Henman 5:3, aber die Bilanz stammt irgendwie aus einer anderen Zeit. Aus einer Zeit vor der Wiederentdeckung des Kiefer’schen Selbstbewusstseins.