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Archiv-Artikel

Dialektik mit Seelachsschnitzel

Die Bundeswehr als heiter-gespenstischer Ort, die K-Gruppen als hässliche Kinder der Studentenbewegung und Frank Lehmann als erfolgloser Glückssucher: Ein Treffen mit Sven Regener, dessen zweiter Lehmann-Roman „Neue Vahr Süd“ morgen erscheint

„Neue Vahr Süd“ ist ein irgendwie gemütlicher und vor allem lustiger RomanRegener blickt lieber freundlich auf eine graue, versunken geglaubte Zeit

VON GERRIT BARTELS

Nicht einmal als die Kellnerin Milchkaffee und einen Lachsbagel bringt, lässt sich Sven Regener in seinen Ausführungen zu Frank Lehmann unterbrechen. Ein Schluck Kaffee, ein Biss in den Bagel und reden und reden, das ist alles eins: „Das war von langer Hand geplant mit diesem Buch“, sagt er, „das ist übrigens kein Herr-Lehmann-Buch, weil der hier noch gar nicht Herr Lehmann heißt, sondern Frank Lehmann, er ist jetzt auch neun Jahre jünger, und niemand bei der Bundeswehr oder seinen Freunden in der WG würde auf die Idee kommen, ihn Herr Lehmann zu nennen, nein, aber ich habe das nicht an die große Glocke gehängt, als ich mit ‚Herr Lehmann‘ fertig war, ich wollte kein Ankündigungsweltmeister werden und sagen, das ist der dritte Teil einer Trilogie, und dann schaffe ich die beiden anderen nicht, von Anfang an war geplant, dass nach ‚Herr Lehmann‘ ein zweiter kommt, ‚Neue Vahr Süd‘ eben, und danach ein dritter, der davon handelt, wie Frank Lehmann in Berlin ankommt und findet, was für ihn das Wahre ist.“ Ohne einen Punkt zu machen, erklärt Regener noch schnell, dass in Bremen alles ziemlich schief laufe für Frank Lehmann und dieser deshalb so aggressiv sei und oft auch vernagelt, er es sich aber auch oft nicht leicht mache, was ihn wiederum ganz sympathisch werden lasse.

Sven Regener, das spürt man bei diesem rasanten Auftakt, will keinen Smalltalk zum Warmwerden, er will direkt zur Sache kommen, zum neuen Buch, zu Frank Lehmann. Er sagt, er könne das gar nicht anders. Ein Interview fordere von ihm volle Konzentration und mache ihn nervös, der Tag sei dann in der Regel gelaufen. Da ist es sinnvoll, ganze Tage mit Interviews voll zu packen, und so ist dieser Mittwoch im Café Einstein in Berlin-Tiergarten schon der zweite Tag, an dem Sven Regener von morgens bis in den frühen Abend hinein Rede und Antwort steht. Im Einstundentakt, versteht sich, denn das Interesse an Regeners zweitem Lehmann-Buch ist groß, was natürlich an dem überwältigenden Erfolg seines 2001 veröffentlichten Romandebüts „Herr Lehmann“ liegt.

Mit Herrn Lehmann, diesem sympathischen Danebensteher und romantischen Verlierertypen im Kreuzberg des Jahres 1989, hatten nicht nur Kreuzberger ihren Spaß, sondern bald erkannte sich in ihm halb Deutschland wieder. Die bloßen Zahlen belegen das: 200.000 verkaufte Hardcover, 750.000 Zuschauer von Leander Haußmanns Verfilmung, die wiederum den Verkauf der Taschenbuchausgabe in Millionennähe getrieben hat. Kein Prophet muss sein, wer erkennt, dass „Neue Vahr Süd“ trotz strammer 580 Seiten ähnlich aussichtsreich im Rennen liegt. So wie man es sich in „Herr Lehmann“ schön bequem machen konnte und so wie Herr Lehmann sein kleines Glück in der Kreuzberger Nische gefunden hatte, so ist auch „Neue Vahr Süd“ ein irgendwie gemütlicher Roman, der es dem Leser leicht macht; vor allem aber: ein lustiger Roman.

Es ist das Jahr 1980, und der 21-jährige Frank Lehmann steht kurz vorm Dienstantritt bei der Bundeswehr. Doch nicht nur das: Er ist auch im Begriff, bei seinen Eltern, die in der Bremer Neubausiedlung Neue Vahr Süd wohnen, auszuziehen und einen Vier-Quadratmeter-Verschlag in einer Wohngemeinschaft zu beziehen. Hier die Bundeswehr, dort Bremens Studentenviertel mit den WGs, den schummrigen Kneipen, den jugoslawischen Restaurants, den engen Gassen – vor diesem wechselnden Hintergrund erzählt Regener nun, wie der orientierungs- und oft auch überzeugungslose Frank Lehmann sich müht, sein Leben auf die Reihe zu bekommen. Zur Bundeswehr ist er nur, „weil ich blöd bin“, wie er einmal sagt, und er verweigert später vor allem, weil er sich nicht dauernd rechtfertigen möchte, eben nicht verweigert zu haben. Doch auch im Kreis seiner Freunde, der Studenten, Punks und Exgenossen, die früher in den so genannten K-Gruppen tätig waren, in kommunistischen Gruppierungen mit Kürzeln wie SDAJ, KOB oder KBW, fühlt sich Frank Lehmann, der gelernte Speditionskaufmann mit der „hippiehaften“ Ausstrahlung, selten aufgehoben.

Sven Regener legt Wert darauf, dass „Neue Vahr Süd“ – Titel hin, Titel her – ein Roman über Frank Lehmann ist, keiner über Bremen, die Bundeswehr oder die K-Gruppen. Doch gekonnt beleuchtet er mit Hilfe seines Helden und mit einfachen Sätzen und zahllosen Dialogen das alltäglich-sinnlose Treiben bei der Bundeswehr, deren hierarchische Strukturen, ihren Leerlauf. Und genauso gekonnt pinselt er als gebürtiger Bremer die studentisch-linksalternative Szene im Bremen der frühen Achtzigerjahre aus.

Das schaut düster aus – gerade in den Kapiteln im Bremer Nachtleben und bei Lehmanns Eltern dominieren arg dunkelgelbe Töne –, wird aber von Regener mit viel Humor und Situationskomik kontrastiert. Manchmal fällt es schwer zu unterscheiden, ob man einen Roman liest oder einem heiter-politischen Kabarettprogramm beiwohnt, das Regeners geburtenstarken Altersgenossen haufenweise Déjà-vus beschert, aber auch junge Tote-Hosen-Fans von heute zu freudiger Oberschenkelklopferei verleitet. „Wenn da aber wieder einer sagt, das sei nur ein Buch für Männer, sage ich nur: Das ist Sexismus. Bücher für Männer oder Frauen, so ein Quatsch“, versucht Regener etwaigen anderen Interpretationen die Schärfe zu nehmen.

Auf seine großartigen Dialoge aber dürften sich beide Geschlechter problemlos einigen können: Gezielt spielt er darin mit Redundanzen und erfüllt dabei brillant seinen Vorsatz, zu zeigen, „wie die so reden“. Hier arbeitet er mit viel heiterem Unsinn, hier provoziert er Lacher wie am Fließband. Etwa wenn Frank Lehmann einen unaufhörlich sabbelnden Vorgesetzten zum Schweigen bringt, indem er noch unaufhörlicher über fehlende Seelachsschnitzel-Brötchen jammert: „Ja. Und wissen Sie, was ich dann genommen habe?“ – „Wie?“ – „Na, statt dem Seelachsschnitzel da“ – „Was denn?“, fragte der Stuffz und stand auf. „Hackepeter“, sagte Frank triumphierend. „Ich habe Hackepeter genommen. Aber nur eins.“

Solche Lustigkeiten können verdecken, dass sich „Neue Vahr Süd“ auch ideal als Fortsetzung von Gerhard Seyfrieds Roman „Der schwarze Stern der Tupamaros“ lesen lässt und als Gegenmodell dazu: Beschäftigt sich Seyfried ernsthaft und sehr um Dokumentation bemüht mit der undogmatischen Linken der Siebzigerjahre, verpackt Regener die verbissene Linkspolitisierung in große, flauschige Hohlräume, dämmern bei ihm langsam die hedonistisch-popistischen Achtzigerjahre herauf. Und rechnet die mysteriöse Sophie Dannenberg mit „Das bleiche Herz der Revolution“ verbiestert-peinlich mit den 68ern ab, blickt Regener lieber freundlich-entspannt auf eine graue, längst versunken geglaubte Zeit und bevorzugt Witze, statt sich zornentbrannt zu echauffieren.

Möglichen Einschätzungen, er tauche die Bundeswehr in ein zu mildes Licht oder mache sich über den Niedergang der K-Gruppen über Gebühr lustig, ja er reinstalliere überhaupt ein leidlich erträgliches deutsches Biedermeier, entgegnet Regener: „Da muss ich echt sagen: Dafür ist es ja auch Kunst, keine Reportage.“ Nach so einem Satz macht er dann auch mal eine Pause, vielleicht weil der nicht zu seinem sonst kultivierten, angenehmen Understatement bezüglich seines Schaffens passt. Also betrachtet Regener das gediegene Ambiente im Café Einstein, wovon er sich in Jeanskluft und weinrotem Poloshirt robust abhebt, sinniert kurz, aber effektvoll und erinnert sich schließlich an die K-Gruppen: „Das war auch wahnsinnig komisch. Und absurd. Die haben fünf Jahre lang nur Scheiße erzählt: Das Proletariat, die Kulturrevolution, Stalin – alles toll. Die K-Gruppen waren die hässlichen Kinder der Studentenbewegung, die sind heute den 68ern nur noch peinlich. Für die fängt die Biografie erst wieder bei den Grünen an.“

Regener räumt aber ein, es selbst „peinlich“ zu finden, dass er vom 16. Lebensjahr an vier Jahre Mitglied des KBW war, des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands. Ja, fügt er an, er sei auch bei der Bundeswehr gewesen, „als KBWler, um dort politisch tätig zu sein“, habe aber nach einem halben Jahr verweigert und Zivildienst in Lüneburg gemacht: „Das war ein Schock bei der Bundeswehr. Da wurde man innerhalb von Minuten so fertig gemacht, dass man total vergessen konnte, was man vorher über sich dachte: dass man sich nicht einschüchtern lässt, man ein selbstbewusster Mensch ist etc.“

Er fährt fort, von der sich einstellenden „Gewöhnung“ als Wehrpflichtiger zu reden, von „Schwarzweißmalereien“, die er nicht schätze, egal ob in Bezug auf die Bundeswehr oder sonst was, und man fragt sich: Ist das jetzt Regeners Welt oder die von Frank Lehmann? Und plötzlich sagt er: „Zu dieser unglücklichen Verweigerungsverhandlung ist nur zu sagen: Der kann das einfach nicht, der kann nicht länger als zehn Minuten so einen Quatsch durchhalten, von wegen Gewissen und so, der bekommt schlechte Laune und sagt: ‚Wisst ihr was: Ihr seid Arschlöcher, ich will mich hier nicht einschleimen‘, und schon ist es um ihn geschehen.“

Dieser Frank Lehmann, das wird bei diesen sprudelnden Sätzen deutlich, ist ihm sehr nahe. In dessen Seelenhaushalt scheint er noch so verstrickt, als sitze der täglich bei ihm zu Hause in Prenzlauer Berg am Mittagstisch. Aber Sven Regener sieht an diesem Morgen die ihn hartnäckig verfolgenden Verwechslungen ganz locker und verweist darauf, dass spätestens mit Abschluss der Trilogie Herr Lehmann so individuell geworden sein könnte, dass es keine Verwechslungen mehr gebe: „Das ist meine Dialektik.“

Und zu der gehört, dass er im quasi inoffiziellen Teil des Gesprächs sich weit von Frank Lehmann entfernen und über Gott und die Welt sprechen kann, nur um sich ähnlich wie sein Held immer mal wieder in kleine Erregungen zu steigern. Sei es nun das Geraune der Feuilletonisten: „Die Jungs, die da im Feuilleton sind, sollten nicht ständig den Politikteil noch einmal neu zu schreiben versuchen. Wenn man Politik mit Gefühl auflädt, ist das antiaufklärerisch“; seien es der Showcharakter der Politik oder die Irrtümer der Intellektuellen, die Helmut Kohl allein seiner Physiognomie wegen unterschätzt hätten; seien es die Unterschiede zwischen der Musikindustrie, die er als Element-Of-Crime-Bandleader aus dem Effeff kennt, und dem Literaturbetrieb, wo er immer gesiezt werde – Sven Regener kann weite Bögen schlagen. Er entpuppt sich als skeptisch-wachsamer Beobachter des politischen Geschehens, als bodenständiger Linksliberaler mit Neigung zum Rumpelstilzchenhaften, der jedoch sanft runterzukommen weiß: „Huch“, bemerkt er, „jetzt bin ich ins Plaudern gekommen.“

Dem ein Ende setzt seine Verlagsbegleiterin, die ihn auf ein Radiointerview verweist. Dieses ist dann so schnell erledigt, dass er noch einmal zurück an den Tisch kommt: „Sag mal“, hebt er an, „das würde ich gern noch wissen, hast du schon diesen Hitlerfilm gesehen?“ – „Nein.“ – „Wir können uns doch duzen, oder?“ – „Ja, klar.“ – „Also, sag mal, spinnen die jetzt total? Einer deiner Kollegen hat geschrieben, das deutsche Kino habe mit diesem Film an Selbstbewusstsein gewonnen im Umgang mit der deutschen Geschichte? Haben sie die noch alle? Was soll denn so ein Film groß bringen?“

Doch bevor er sich stärker ereifern kann, muss er schon weiter. Der nächste Interviewpartner wartet. Sven Regener schnappt sich eine Flasche Wasser und macht sich auf, die nächsten Fragen zu Frank Lehmann zu beantworten.

Sven Regener: „Neue Vahr Süd“. Eichborn, Berlin 2004, 582 Seiten, 24,90 €