wir lassen lesen : Perry Rhodan tunnelt Ente Lippens
Die „Bundesliga-Chronik“ klappert häppchenweise 40 Jahre Fußball-Geschichte ab und hilft der Erinnerung auf die Sprünge
Erinnerungen, so sagt man, fransen am ehesten an den Rändern aus, in der Mitte halten sie sich oft beharrlich: Spätherbst 1963, im Schlagschatten der Schachtanlage Rheinbarben in Bottrop-Eigen. Meine kleine, nachmittägliche Welt war der schmale Flur der elterlichen Dreieinhalbzimmerwohnung, ich zumeist schweißgebadet, das „Leder“ ein schnöder, ausgelutschter Tennisball, mein Tor das Fußbänkchen, das meine Mutter an „spielfreien“ Tagen zum Fensterputzen bestieg. Ich war neuneinhalb und auf Effetschüsse an den Innenpfosten spezialisiert, war in schnellem Wechsel Passgeber, Vollstrecker und Kommentator in Personalunion, war Matischak, Emmerich oder Libuda, die zu jener Zeit so virtuos den Ball und so nachdrücklich mein Herz bewegten. Das ist gut vierzig Jahre her, mein Tun am Ball mir noch sehr präsent und die Erinnerung an diese Zeit ansonsten tatsächlich schon etwas ausgefranst.
Dem ramponierten Gedächtnis kann jetzt auf die Sprünge geholfen werden, dank der im Agon-Sportverlag erscheinenden Bundesligachronik. „Triumphzug der Geißböcke“ heißt der Band über die Saison 1963/64, randvoll mit Ergebnissen, Statistiken und klangvollen Namen. Was Ulrich Merk und André Schulin, im wirklichen Leben Macher einer Internetdatenbank, da zusammengetragen haben, führt zurück in die Zeit, in der die Bundesliga gerade ohne Gehhilfen laufen lernte, wenn auch begleitet von einigen Reibereien wie dem Gerangel um den monatlichen Maximalverdienst der Spieler oder den juristischen Auseinandersetzungen mit Alemannia Aachen und Kickers Offenbach, die ihre Teilnahme am Spielbetrieb einklagen wollten.
Vieles aus dieser ersten Spielzeit einer deutschlandweiten Liga, auf die seit fast dreißig Jahren mehr oder minder zielstrebig hingearbeitet worden war, liest sich wie Anekdotisches aus der Fußballsteinzeit: Pro Saison durften die 16 Vereine jeweils nicht mehr als drei Neuverpflichtungen tätigen, die Ablösesumme war auf höchstens 50.000 Mark begrenzt, das Handgeld auf 10.000, die meisten Spieler gingen neben dem Fußballspielen noch bedingt einträglichen Halbtagstätigkeiten wie dem Betreiben von Tankstellen und Toto-Annahmestellen nach, insgesamt exakt sechs Ausländer spielten in der Liga, vier Mark gab man für eine Steh-, zwölf für eine Sitzplatzkarte aus. All dies ist in der „Chronik“ liebevoll und minutiös dokumentiert, angereichert mit Spielberichten aller Partien, Spieltagszusammenfassungen, Vereinsporträts und Spielerbewertungen, die allesamt dazu beitragen, die Vergangenheit lebendig auferstehen zu lassen.
Fast vergessene Namen und längst verblasste Bilder kehren so ins Bewusstsein zurück. Trainer wie Knöpfle, Merkel oder Eppenhoff, legendäre Spieler wie Overath, Tilkowski, Dörfel, Koslowski. Das Buch ist zudem Balsam auf die wunden Seelen manch geschundener Fans der Jetztzeit, war doch der 1. FC Köln in jener Saison erster Meister der Bundesliga, und auch die Anhänger längst verblichener, in den Niederungen der Fußballligen dümpelnder Vereine wie Preußen Münster werden gefallen daran finden nachzulesen, dass sie ja schon einmal bessere Zeiten erleben durften.
Wir dürfen uns mithilfe der „Chronik“ an manche Schmankerl erinnern, so, dass ein gewisser beinharter Otto Rehhagel, Spieler in Diensten von Hertha BSC Berlin, im Spiel gegen Schalke wegen eines rüden Schubsers schon vor der Halbzeit tränenüberströmt zum Duschen durfte, und dass der BVB gegen Kaiserslautern tatsächlich 9:3 gewann. Es war das Jahr, in dem Uwe Seeler in dreißig Spielen dreißig Tore schoss und Werder Bremen auswärts nur zweimal gewann.
Jedem Spieltag ist zudem ein „Zeitfenster“ zugeordnet, das eindrucksvoll offenbart, dass die Welt auch damals nicht nur aus Fußball bestand. Hier treffen wir jede Menge alte Bekannte. Die Perry-Rhodan-Episode „Bestien der Unterwelt“, der Cartwrights Ponderosa, Cassius Clay, den „Playboy“, 77 Sunset Strip, Martin Luther King, Rin Tin Tin, Underberg und Ernte 23, Brigitte Bardot, das Wunder von Lengede und die schwer verdauliche Nachricht, dass Leverkusen im November 1963 die 100.000-Einwohner-Marke überschritt.
Die „Chronik“ ist mit Statistiken aus dem Amateurbereich und dem internationalen Fußball angereichert und mit einem Spielerindex von Albrecht, Richard bis Zipperer, Friedrich abgerundet, der uns unter anderem wissen lässt, dass Peter von Kummant vom 1. FC Nürnberg die Saison mit einem Schulnotendurchschnitt von bescheidenen 4,8 abschloss, was maßgeblich dafür verantwortlich sein mag, dass wir uns an seinen Namen nicht nachhaltig erinnern. Es ist dies der erste Band einer Buchreihe, die im Drei- bis Viermonatsrhythmus die weiteren Spielzeiten der über 40-jährigen Erfolgsgeschichte Fußballbundesliga in ähnlicher Form aufarbeiten will. Zu unserer Freude, und um unserer Erinnerung zurück zu alter Form zu verhelfen.
REINER LEINEN
Bundesligachronik, Agon-Verlag, je Band 25 Euro. „Triumph der Geißböcke“ (1963/64) und „Die heißen Tage von Bremen“ (1964/65) liegen vor, „Aufsteiger machen Furore“ (1965/66) erscheint im November