: Knalltüten zu Popanzen
Überzeugt von der eigenen Ideologiefreiheit: Sophie Dannenbergs „Das bleiche Herz der Revolution“ ist eine spätpubertäre, eher private und tragisch dumme Abrechnung mit der Generation der 68er
VON JÖRG MAGENAU
Kein Gütesiegel ist derzeit so wertvoll wie der Button „absolut ideologiefrei“. Die vorherrschende Ideologie gebietet es, Ideologien zu verachten und zu glauben, Ideologiefreiheit sei nicht nur möglich, sondern erreicht. Ideologen sind immer die anderen, vor allem aber die, die früher lebten, in unaufgeklärten Zeitaltern von 1918, 1933 und 1968 ff. Man selbst aber lebt im Zustand der von keiner Utopie getrübten Wahrheit und einer Gerechtigkeit, die sich von Selbstgerechtigkeit aber oft nicht unterscheidet.
Die Ideologie der Ideologiefreiheit steht im Mittelpunkt aller aktuellen Zeitgeistmanifestationen. Ein drastisches Beispiel dafür ist der Roman „Das bleiche Herz der Revolution“, der unter dem Autorennamen „Sophie Dannenberg“ erscheint – Pseudonym einer 1971 geborenen Berliner Journalistin, die mit 1968 mal richtig abrechnen will. Laut Klappentext begibt sich der Roman „auf die Suche nach der Wahrheit jenseits aller Ideologie“. Der Ex-Pop-Autor Joachim Bessing attestierte dem Roman in der WamS, ihm liege „keinerlei Ideologie“ zugrunde. Die These des Buches fasste er so zusammen: „Die Zeit nach 1968 als Farce der Zeit nach 1933.“
Von Marx hat Bessing immerhin so viel gelesen (bei Dannenberg), dass die Tragödien der Geschichte sich als Farce wiederholen. Das ist zwar nicht ganz korrekt zitiert, entspricht aber dem Restbestand historischen Denkens. Dannenberg wiederum erwähnt einen gewissen Orlando Latrino, der einst mit Che Guevara Gewehre putzte und später al-Quaida aufbaute. So wird 1968 zur Schnittmenge aus Hitler und Ussama bin Laden. Und das total ideologiefrei. Donnerwetter.
Der Roman zerfällt in inhaltlich und stilistisch disparate Teile. Im Prolog, der Anfang der Sechzigerjahre spielt, geht es um eine Alkoholikerin mit Eheproblemen, die sich später erhängt. Sprachlich und atmosphärisch ist dies der stärkste Teil. Hier, wo sie das kleinbürgerliche Milieu der Nachkriegszeit zeichnet, findet Dannenberg einprägsame Metaphern und bleibt als Erzählerin diskret und distanziert.
Doch schon im zweiten Kapitel, in dem es um die Elterngeneration geht, verliert sie die Selbstkontrolle. Die linksradikalen Studenten, die sich um den adornohaften Professor Wisent versammeln, sind dumm, intrigant und geil. Der Text wird zur derben Satire, die mit hastigem Sex auf der Institutstoilette gipfelt. „O ja! Fick mir den Grundwiderspruch aus dem Leib!“, ruft eine Studentin ihrem braven Dozenten zu. „Stoß bloß zu! Bei Lenin, ja! Bei Trotzki und Stalin und Pol Pot, ja! Bei allen Klassikern, bei Mao und Marcuse, bei Michelangelo, Montezuma und Mielke! O ja, das ist besser als die Weltrevolution!“ Das mag man lustig finden. Doch auch grobe Scherze sollten wenigstens annähernd stimmen. Pol Pot stand 1968 noch nicht auf der Bühne der Weltpolitik. Dass westdeutsche Studentinnen damals Erich Mielke kannten und verehrten, darf bezweifelt werden. Und Professor Wisent wird schließlich Opfer eines Brandbombenanschlags im Hörsaal, auch wenn Adorno eines natürlichen Todes in der Schweiz gestorben ist. Hier regiert eben das grobe Ganze.
Den Hauptteil dominiert dann die junge Kitty als Ich-Erzählerin. Sie ist die Enkelin der Frau, die sich anfangs erhängte. Als Tochter eines 68er-Paares wird sie zum exemplarischen Opfer antiautoritärer Erziehung. Drastisch zeigt Dannenberg, wie gewalttätig die innerfamiliären Verhältnisse waren, wie zwanghaft die Sexualität „befreit“ wurde, welche Brutalitäten libertäre Eltern verübten. Da wird Kitty nachts aus dem Bett geholt, damit sie einen Film über den Holocaust sieht. Oder die Eltern demonstrieren in ihrem Bett einen Geschlechtsakt zu Aufklärungszwecken und rufen so Ekel und Entsetzen hervor. Kein Wunder, dass die arme Kitty bei einer Psychologin landet. Doch die wirkt eher wie eine Hexe und sagt: „Bist du bereit, dich brechen zu lassen? Bist du bereit, dich aufzugeben? Bist du bereit, der neue Mensch zu werden?“ Kitty willigt ein in die eigene Unterwerfung. Was bleibt ihr auch übrig.
Das Leiden an den bizarren Auswüchsen antiautoritärer Erziehung, das Umschlagen von Befreiungssehnsucht in Unterdrückungspotenzial wäre ein großes Thema. Um literarisches Interesse daran zu wecken, müsste die Elternseite aber wenigstens mit ein paar guten Vorsätzen ausgestattet werden. Es ist ja keine große Herausforderung, eine Handvoll Knalltüten zu Popanzen aufzublasen, um sie mit lautem Knall zu zerstören. So wirkt „Das bleiche Herz der Revolution“ wie eine spätpubertäre, tragisch dumme, eher private Abrechnung, die gleich die ganze Epoche geißelt.
Nach so viel schlechten Erfahrungen nimmt die Revision der deutschen Geschichte, mit der Dannenberg endet, nicht wunder. Da versöhnt sich der Großvater als ehemaliger Nazi mit einem Captain der US-Armee. Ja, der Amerikaner entschuldigt sich gar für die Taten der Alliierten, und der Großvater erzählt seine Geschichte der Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen. Das Buch endet mit seiner historischen Lehre: Lange glaubte er, die 68er hätten seiner Generation den Krieg verübelt. Doch das stimme nicht: Sie verübelten den Vätern nur den verlorenen Krieg und gönnten ihnen ihr Heimweh und ihre Erinnerungen nicht. Da fehlen einem die Worte.
Freie Liebe war also eine Zwangseinrichtung. Antiautoritäre Erziehung eine Terrorherrschaft. Nazis im Vergleich mit den monströsen 68ern doch ganz lieb. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte verlogener Mist. Und Theorie war das Feld von Intrigen und Karriere. Als Auseinandersetzung mit 1968 ist das arg dürftig, als Abbild gegenwärtigen historischen Bewusstseins erschütternd. Während in der deutschen Geschichte Täter und Opfer immer mehr verschwimmen, ist an der Generationen-Front alles klar. Beim Lesen langweilt man sich aber bald, weil in dieser Anordnung jede Äußerung erwartbar ist. Die Guten und die Bösen sind so simpel zu durchschauen wie in schlechten Kinderbüchern. Das kriegen nur jene so ungebrochen hin, die von der eigenen Ideologiefreiheit restlos überzeugt sind. Literatur kann unter diesen Bedingungen nicht entstehen.
Sophie Dannenberg: „Das bleiche Herz der Revolution“. DVA, München 2004, 310 Seiten, 19,90 €