: List der säkularen Vernunft
Nermin Abandan-Unat ist eine der ersten Akademikerinnen und Migrationsforscherinnen der Türkei. Wie sieht die aufgeklärte Grande Dame der politischen Soziologie die postsäkulare Türkei? Ein Porträt
VON ISOLDE CHARIM
Nermin Abadan-Unat kann sich deutlich erregen, wenn man sie nach ihren Vorstellungen zur Integration fragt. Das sei ein täuschender Begriff, erklärt sie dezidiert, der viel zu viel an Assimilation und Anpassung verberge, ein viel zu flüssiges Konzept, dessen Grenzen sich nicht genau bestimmen lassen. Vor allem aber kommen diese Integrationsmaßnahmen jetzt zu spät, viel zu spät. Vor allem Deutschland – das sich viel zu lange geweigert habe, sich als Immigrationsland zu verstehen – hat die energische Dame dabei im Visier.
Ihre erste Studie zur türkischen Arbeitsmigration erstellte Unat bereits 1963. 40 Jahre später, 2003, titelte sie ihr Buch: „Migration ohne Ende. Vom Gastarbeiter zum Euro-Türken“. Heute ist die 84-Jährige noch immer aktiv: Sie lehrt an der Bogazici-Universität in Istanbul.
Also Deutschland: Hier hätten zwei staatliche Bürokratien eine Art – na ja, Menschenhandel sei vielleicht übertrieben, aber doch eine Vermittlung von Menschen unternommen, ohne in diesen Menschen mehr als nur temporäre Arbeitskräfte zu sehen. Und nun, drei Generationen später, komme man mit Integrationsmaßnahmen?
Aber, lächelt Unat zufrieden, dies sei alles bereits vom Transnationalismus überholt. Die Entwicklungen von Kommunikation und Transportmitteln haben den trägen Nationalismus hinter sich gelassen. Und es klingt fast ein bisschen nach Rache, wenn sie betont, dass ein Migrant heutzutage seine Wurzeln nicht mehr kappen muss, seine Brücken nicht mehr abbrechen muss, wenn er mit den Ländern auch die Welten wechselt. Transnationalismus, das bedeute Bindung zu mehr als einem Land. Wie etwa jene jemenitischen Saisonarbeiter in Kalifornien, die sich zwischen zwei extrem unterschiedlichen Welten bewegen. Und wenn auch ihre arabischen Werte dominant blieben, so Unat, so werden diese durch die neuen Erfahrungen doch stark verändert.
Gut ginge es Migranten, die es in angelsächsische Länder wie Großbritannien, die USA oder am besten gleich nach Australien geschafft haben. Ins Schwärmen gerät die große alte Dame der türkischen Soziologie aber, wenn Sie von den heutigen Wanderarbeitern in Russland oder in der Ukraine spricht. Dort würden die Migranten nicht nur gut verdienen, ohne diskriminiert zu werden, sie würden auch leicht Anschluss an gut ausgebildete Frauen finden, die die rauen Männer aus dem Osten auch noch zivilisieren.
Ihr eigener Weg hat Abadan-Unat in die entgegengesetzte Richtung geführt. 1921 als Tochter eines Türken und einer Deutschen in Wien geboren, machte sie sich nach dem Tod des Vaters über den Umweg Ungarn als 14-Jährige allein auf den Weg in die Türkei. Türkisch lernte sie erst dort, Deutsch spricht sie immer noch fließend und elegant. Was die 14-Jährige aber ins unbekannte Vaterland zog, war die Möglichkeit, dort als Mädchen gratis zur Schule gehen zu können. Was sie als Jugendliche auf abenteuerlichen Wegen bis nach Izmir brachte, war also das, was sie später als das „Vermächtnis von Atatürk“ bezeichnete: ein armes Land, aber voller Hoffnungen, in dem Kemal Atatürk eine türkische Republik aufbaute, die von zwei Säulen getragen wurde – einer säkularen, westlichen Rechtsordnung, die auf der Gleichstellung von Mann und Frau beruhte, und einem offensiven Bildungskonzept. Uns sie meint, dass im Wesentlichen die Reformen – vor allem in Bezug auf das Geschlechterverhältnis – ein größeres Gewicht haben als die reaktionären Tendenzen.
Und die heutige Türkei? Was ist etwa mit dem Kampf der Islamisten für das Recht auf das Tragen des Kopftuchs? Vor rund einem Jahr hat die moderat-islamistische AKP von Präsident Erdogan das kemalistische Verbot, das Kopftuch zu tragen, für Studentinnen aufgehoben. Eine paradoxe Situation, in der sich die Islamisten auf das säkulare Konzept der freien Bildung beriefen, um das Tragen des Kopftuchs durchzusetzen. Ein halbes Jahr später hat das türkische Verfassungsgericht den parlamentarischen Beschluss wieder aufgehoben und das Kopftuch an den Universitäten wieder verboten.
Ist das nun „autoritärer Säkularismus“, wie manche Liberalen meinten? Wie sieht eine der frühesten Frauenrechtlerinnen der Türkei diese Situation? Nun, unter der Bedingung, dass die herrschenden Parteien ein rigoroses Bekenntnis zum Säkularismus ablegen, sei sie für die Aufhebung des Verbots – so die zögernde Antwort, der sonst so Kämpferischen. Die paradoxe Problematik zwingt sie zu Positionen, die ihr sichtlich nicht angenehm sind. Denn das Kopftuchverbot, fügt sie schnell hinzu, sei ein Unrecht gegen die Frauen. Während orthodoxe junge Männer ungehindert Zutritt zu den Universitäten haben, da sie nicht identifizierbar seien, bleibe dieser den Frauen mit Kopftuch verwehrt. Und obwohl es bei der Kontroverse um das Kopftuch keinesfalls um die liberale persönliche Freiheit der Frau gehe – „Das Kopftuch ist kein Ausdruck von Freiheit!“, ruft sie –, ist sie dennoch dafür.
Denn was würden diese Mädchen sonst machen? Zu Hause sitzen! Da ist es doch besser, sie studieren und gelangen vielleicht dadurch zu einem Verständnis ihrer Rolle als Frau, das ihnen nicht durch die Religion vorgegeben wird. So bleibt einem aufgeklärten Geist in der verworrenen postsäkularen Situation der heutigen Türkei nichts übrig, als auf eine List der säkularen Vernunft zu hoffen.